WAHLVERWANDTSCHAFTEN. Die Russische Avantgarde im Spiegel deutscher Ausstellungen

Hubertus Gaßner*

Magazine issue: 
#1 2021 (70), Sonderausgabe "Deutschland - Russland. Perspektiven auf die Kunst- und Museumsszene"

* Hubertus Gaßner (*1950) ist Kunsthistoriker und Kurator und war unter anderem von 2006 bis 2016 Direktor der Hamburger Kunsthalle. Seit 1972 beschäftigt er sich kontinuierlich als Wissenschaftler, Kurator und Publizist mit der Russischen Avantgarde und hat vielbeachtete Ausstellungen zum Thema organisiert.

Die kurze, aber mit schöpferischer Energie geladene Epoche der Russischen Avantgarde hat auch im Westen einen Siegeszug erlebt - nicht ohne Wirren und Hindernisse. Der Austausch zwischen deutschen und russischen Museen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen zu Beginn des Jahrhunderts wurde erst in den 1970er-Jahren wiederbelebt: Mit vielbeachteten Ausstellungen, die ungesehene Werke und Künstlerinnen erstmals vorstellten, ein differenziertes Bild der verschiedenen Strömungen zeichneten oder, wie eine aktuelle Schau im Kölner Museum Ludwig, mutig das Thema „Original und Fälschung“ angehen.

KASIMIR MALEWITSCH. Suprematistische Komposition. 1915
KASIMIR MALEWITSCH. Suprematistische Komposition. 1915
Öl auf Leinwand. 66,5 × 57 cm. Museum Ludwig, Köln
Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln

 

Die Spreu vom Weizen trennen

In memoriam Elbrus Gutnow, Wladimir Kostin, Walentina Kulagina, Alexander Labas, Sergej Lutschischkin und Tanja Tretjakowa für ihre Freundschaft und Unterstützung in den 1970ern.

„Finger weg von russischer Kunst - dieser Markt ist von Fälschungen verseucht.“ Unter diesem alarmierenden Titel publizierte Christian Herchenröder am 30. Juni 2018 in der Neuen Zürcher Zeitung einen Artikel über Skandale im Zusammenhang mit Fälschungen von Werken der Russischen Avantgarde, die im vergangenen Jahrzehnt Schlagzeilen machten. Die traurige Bilanz endet mit dem erwartungsvollen Satz: „In einigen Museen, darunter dem Kölner Museum Ludwig, werden jetzt die eigenen Sammlungen Russischer Avantgarde kunsthistorisch aufgearbeitet. Man darf gespannt sein, wie viele echte Werke übrigbleiben.“

Installationsansicht Russische Avantgarde im Museum Ludwig – Original und Fälschung. Fragen, Untersuchungen, Erklärungen Museum Ludwig, Köln 2020
Installationsansicht Russische Avantgarde im Museum Ludwig – Original und Fälschung.
Fragen, Untersuchungen, Erklärungen Museum Ludwig, Köln 2020
Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln / Chrysant Scheewe

In der Ausstellung des Kölner Museum Ludwig Russische Avantgarde im Museum Ludwig - Original und Fälschung. Fragen, Untersuchungen, Erklärungen (26. September 2020 bis 2. Mai 2021) ist das erste Resultat dieser 2009 begonnenen Aufarbeitung nun zu sehen und im zweisprachigen Katalog (deutsch/englisch) nachzulesen. Das Ergebnis ist erschütternd. Von den knapp 100 Gemälden, die das Museum aus dieser Epoche besitzt, wurden 49 Gemälde kunsttechnologisch und maltechnisch auf ihre Echtheit untersucht. Als Folge musste fast die Hälfte dieser Bilder als nicht-authentisch oder - weniger vorsichtig gesagt - als Fälschungen abgeschrieben werden. Von den weiteren 50, bisher noch nicht vollständig untersuchten Gemälden ist kein grundsätzlich günstigeres Ergebnis zu erwarten. Ein äußerst schmerzlicher Verlust für die Kölner Sammlung - und doch ein großartiger, mutiger Anfang, um diese zwar kurze, aber bedeutende und mit schöpferischer Energie geladene Kunstepoche wieder in ein reineres Licht zu rücken, nachdem in den vergangenen dreißig Jahren so viele Fälschungen der Russischen Avantgarde den Markt und die Sammlungen überschwemmt und damit auch die Kunst selbst in Misskredit gebracht hatten.

In den 1980er- und 1990er-Jahren erlebte diese Kunstepoche einen internationalen Boom mit Ausstellungen, Publikationen und Auktionen. Ihr hing das exotische Flair von aufregenden Neuentdeckungen hinter dem Eisernen Vorhang an, die auf zumeist abenteuerliche Weise entdeckt, ausgegraben, auf verdeckten oder offiziellen Wegen in den Westen verbracht und dort dem staunenden Publikum als kostbare Trouvaillen präsentiert wurden. Durch die Serie von Fälschungsskandalen, die sich vor allem in Deutschland und Frankreich ereigneten - Klagenfurt 2000, Tours 2009, Passau 2012/13, Wiesbaden 2013-2018, Gent 2018, ist der Lack nun ab und die einstmals glanzvollen Auftritte weichen einer ernüchternden Bestandsaufnahme und Katerstimmung bei Sammler*innen, Auktionshäusern und Museen.

KASIMIR MALEWITSCH. Supremus Nr. 38. 1916
KASIMIR MALEWITSCH. Supremus Nr. 38. 1916
Öl auf Leinwand. 102,5 × 67 cm. Museum Ludwig, Köln
Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln

Die Ursachen dafür ergeben sich aus einem komplexen Zusammenspiel von Interessen, der Rolle von Pro- duzent*innen, Käuferinnen, Händlerinnen und zweifelhaften Expertisen in einem internationalen Netzwerk und harren zukünftiger Aufklärung. Für das Kölner Museum Ludwig gilt: Auch nach dem Verlust vermeintlicher Spitzenwerke kann die rund 600 Werke umfassende Kollektion russischer Kunst aus den Jahren 1905 bis 1930, die das Museum seit der testamentarischen Schenkung von Irene Ludwig im Jahr 2011 besitzt, auch weiterhin als eine der bedeutendsten außerhalb Russlands gelten. Vergleichbare Sammlungsschwerpunkte können nur das Stedelijk Museum in Amsterdam mit seiner exorbitanten Malewitsch-Sammlung, das Museum Thyssen-Bornemis- za in Madrid mit Spitzenwerken, das Staatliche Museum für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki mit der Sammlung Costakis, das Pariser Centre Pompidou und das Museum of Modern Art in New York mit ihren bereits seit den 1930er-Jahren erworbenen Glanzstücken vorweisen.

 

Die Geburt der Avantgarde aus dem Geiste der Freiheit

Ein Blick in die Geschichte und Rezeption der Russischen Avantgarde in Deutschland mag ins Bewusstsein bringen, wie viel kreatives und kommunikatives Kapital zur Verständigung und gegenseitigen Inspiration zwischen den beiden Nationen verloren geht, wenn das Interesse an der Kunst des jeweils anderen Kulturlandes durch Fälschungsskandale untergraben wird. Aber nicht nur das. Er offenbart zudem, wie sehr die Beziehungen zwischen Künstlerinnen beider Länder, die gegenseitige Rezeption und letztlich auch die Entwicklung der Kunst selbst von den dramatischen sozialen und politischen Zeitläuften des 20. Jahrhunderts bestimmt wurden. Die Geburt der Russischen Avantgarde vollzieht sich im Schoße der bereits Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufenen Künstler vereinigung Welt der Kunst, deren symbolistische, einerseits an der westeuropäischen Moderne, andererseits an der russischen Volkskunst orientierte Werke wesentlich zu ihrer Entstehung beigetragen haben. Der Begründer und Maestro der Ballets Russes, Sergej Diaghilew, 1898 bis 1906 Mitglied und Förderer der Vereinigung und Organisator wichtiger Ausstellungen im In- und Ausland, präsentierte Werke dieser Gruppe 1906 in der Ausstellung russischer Kunst im Pariser Herbstsalon, die im folgenden Jahr auch in Berlin gezeigt wurde - gleichsam im Geburtsjahr der europäischen Avantgarden.

Für die jüngere russische Künstler*innengeneration bot der damals in Dresden und Berlin entstehende Expressionismus so gut wie keine Anregung. Sie richteten ihren Blick - und häufig auch ihre Schritte - nach Paris, wo der Kubismus sich entfaltete, und nach Italien zu den Futurist*innen. Die im Entstehen begriffene Russische Avantgarde vereinte beide Richtungen: die bewegungsversessenen, dynamischen und farbstarken Bildkompositionen der italienischen Futurist*innen und den eher statisch wirkenden analytischen Kubismus, der die Fragmente der zerlegten Bildgegenstände in einer Gitterstruktur anordnete und seine Farbpalette weitgehend auf weiße, graue und braune Töne beschränkte. Aus diesem synthetischen, „Kubo Futurismus“ genannten Malstil entwickelten einerseits Natalija Sergejewna Gontscharowa und Michail Larionow ihren erstmals 1914 ausgestellten Rayonismus, der die Gegenstandswelt in abstrakte Strahlengeflechte auflöste, und andererseits Kasimir Malewitsch den Suprematismus mit seinen geometrischen Abstraktionen - erstmals zu sehen 1915 in Sankt Petersburg in der Ausstellung 0,10.

Im Unterschied zu dieser Mehrheit der Künstlerinnen begründeten die in München tätigen Russinnen derweil eine expressive Malweise, die dem deutschen Expressionismus eine eigene Note verlieh. Wassili Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin entwickelten zusammen mit den deutschen Mitgliedern der Künstler*innenvereinigung Der Blaue Reiter - Paul Klee, Franz Marc, August Macke und anderen - gleichsam eine süddeutsche Antwort auf den Dresdener und Berliner Expressionismus der Künstlervereinigung Die Brücke. In den 1910er-Jahren entwickelten sich die Malschule von Anton Azbe, in der die russischen Professoren Igor Grabar und Dmitri Kardowski eine eigene russische Abteilung leiteten, und der Salon der Marianne von Werefkin in der Giselastraße zu wichtigen Treffpunkten für deutsche und russische Künstlerinnen. Aus diesen beiden Begegnungsstätten ging denn auch 1909 der Impuls zur Gründung der Neuen Künstlervereinigung München hervor, von der sich zwei Jahre später der Blaue Reiter abspaltete. Den äußeren Anlass hierfür gab die Weigerung der Neuen Künstlervereinigung München, eine große abstrakte Komposition von Kandinsky in ihrer Ausstellung zu zeigen.

Als Kandinsky drei Jahre später 1912 seine erste Einzelausstellung mit abstrakten Bildern in der Galerie Der Sturm von Herwarth Walden in Berlin eröffnete, wurde sie erwartungsgemäß von den meisten Kritiker*innen heftig attackiert. Im folgenden Jahr veranstaltete Walden am 20. September 1913 unweit seiner Galerie eine Ausstellung mit mehr als 90 Künstlerinnen, die er, in Anspielung auf den seit 1903 stattfindenden Salon dAutomne in Paris, Erster Deutscher Herbstsalon nannte. Durch Vermittlung von Kandinsky konnte Walden auch einige in Russland lebende Künstlerinnen einladen, darunter Dawid und Wladimir Burljuk, Marc Chagall, Natalija Sergejewna Gont- scharowa und Michail Larionow. Ungeachtet der heftigen Anfeindungen in der Tagespresse brachte diese für die künstlerische Avantgarde so bedeutende Ausstellung, die bis 1914 durch Europa tourte, für viele russische Künstlerinnen den Durchbruch in Deutschland. Ein Aufmerksamkeitserfolg, der jedoch durch den nur wenig später ausbrechenden Ersten Weltkrieg zunichtegemacht wur de. Kandinsky, Jawlensky und von Werefkin waren aufgrund ihrer russischen Herkunft gezwungen, Deutschland in kürzester Zeit zu verlassen. Damit war auch das Ende des Blauen Reiters nach nur drei Jahren seiner Existenz besiegelt. Jawlensky emigrierte mit Marianne von Werefkin in die Schweiz, Kandinsky ging zurück nach Moskau. Dort sah Kandinsky sich mit den beiden so ganz anderen Tendenzen der ,gegenstandslosen‘ Kunst konfrontiert: der geometrischen Abstraktion von Malewitsch und seinen Anhängerinnen, wie Iwan Kljun, Michael Menkow, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko, Olga Rosanowa sowie Nadeschda Udalzowa, und der „Kultur der Materialien“ von Wladimir Tatlin. Nachdem Kandinsky die Leitung des Moskauer Instituts für künstlerische Kultur (InChUK) übernommen und die Abteilung für Psychophysik an der neuen Staatlichen Akademie der Kunstwissenschaften (GAChN) ins Leben gerufen hatte, kehrte er im Winter 1921 nach Deutschland zurück. 1922 trat er die Stelle als Meister der Werkstatt für Wandmalerei an dem von Walter Gropius 1919 in Weimar gegründeten Bauhaus an, dem er bis zu dessen Schließung durch die Nationalsozialist*innen im Jahre 1933 angehörte.

 

Der Konstruktivismus revolutioniert die Kunst

Kandinsky war nicht der einzige russische Künstler, der sich nach der Oktoberrevolution in Deutschland niederließ. In den Jahren 1919 bis 1923 bot vor allem Berlin Hunderttausenden von russischen Emigrantinnen ein neues Zuhause - so viele, dass Charlottenburg „Charlottengrad“ und Berlin manchmal „Berlinograd“ genannt wurde. Mit ihnen kamen auch die russische Intelligenzija und die bildenden Künstlerinnen aller Schattierungen. Dieser Phase widmet sich ausführlich Natalia Awtonomowas Artikel zum Jubiläum der Ersten Russischen Kunstausstellung 1922 in der Berliner Galerie van Diemen, ein für das Bekanntwerden und Verständnis der Russischen Avantgarde im Westen höchst bedeutsames Ereignis. Neben den schon bekannteren Werken von Kandinsky, Archipenko und Chagall weckten vor allem Kasimir Malewitsch und Wladimir Tatlin, Alexandra Exter, Ljubow Popowa, Olga Rosanowa und Nadeschda Udalzowa, Natan Altman, Alexander Drewin und Iwan Puni, Alexander Rodtschenko, Warwara Stepanowa, El Lissitzky sowie Naum Gabo, Anton Pews- ner, Konstantin Medunetzky und Wtadystaw Strzeminski die Aufmerksamkeit der Ausstellungsbesucher*innen. Die deutschen Künstler*innen und Kunstkritiker*innen, aber auch eine breite Öffentlichkeit sahen „plötzlich im Osten eine ganze Generation von neuen Künstlern und Ideen“ vor sich (Hans Richter).

Das Jahr 1922 kann als Jahr der Entscheidung in der nachrevolutionären Entwicklung der Russischen Avantgarde angesehen werden. Für die angehenden Konstruk- tivist*innen in Russland war 1922 „das letzte Bild gemalt“ (Nikolai Tarabukin) - eine prinzipielle Entscheidung gegen das Tafelbild, sei es figurativ oder abstrakt, die auch in Berlin zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Die Erste Russische Kunstausstellung dokumentierte diesen Übergang vom Bild zum autonomen Bildobjekt. Kurz nach der Eröffnung hielt Iwan Puni im Berliner Haus der Künste seinen Vortrag „Die gegenwärtige russische Malerei. Die russische Ausstellung in Berlin“: Puni erklärte die abstrakte Kunst, die er vormals selbst als Künstler und Organisator von Ausstellungen vertreten hatte, für bankrott. Ebenso - wenn auch weniger radikal - Kandinskys Variante der expressiven Abstraktion und die geometrische Abstraktion des von Malewitsch begründeten Suprematismus, auf dem die jüngeren Konstruktivist*innen aufbauten. Stattdessen plädierte Puni für eine Rückkehr zur gegenständlich figurativen Malerei, worin ihn unter anderem der Kunsttheoretiker und Schriftsteller Viktor Schklowski unterstützte. Gegen Puni verteidigten Altman, Archipenko und Gabo eine autonome Objektkunst - und vermutlich hat der Dichter Majakowski als einziger in diesem Kreis die Position der Konstruktivist*innen um Rodtschenko eingenommen, die gerade in diesem Jahr für die Weiterentwicklung der zweckfreien, autonomen Objektkunst zur Gestaltung von Gebrauchsgegenständen kämpften. In dieser heftig ausgetragenen Grundsatzdebatte innerhalb der Russischen Avantgarde nahmen der Schriftsteller Ilja Ehrenburg und der Konstruktivist El Lissitzky eine Zwischenstellung ein, indem sie die Gegensätze in ihrer 1922 in Berlin herausgegebenen Zeitschrift Weschtsch - Objet - Gegenstand vermitteln wollten. Die Zeitschrift, die Künstler*innen der Russischen und internationalen Avantgarde zu Wort kommen ließ, um die Positionen zu klären, brachte es nur auf zwei Nummern, so unversöhnlich waren die Gegensätze.

Als Antwort auf die Erste Russische Kunstausstellung in Berlin wurde im Oktober 1924 in Moskau die Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in Sowjet-Russland mit Werken von 126 Künstlerinnen eröffnet, die danach auch in Saratow, Perm und Leningrad zu sehen war. Vor allem die Verist*innen wie Otto Dix und George Grosz, aber auch die Künstlerinnen der Neuen Sachlichkeit beeinflussten in den kommenden Jahren die jungen sowjetischen Künstlerinnen, die sich in der 1925 gegründeten Künstler*innenvereinigung OST (Genossenschaft der Staffeleimaler*innen) zusammenfanden: Alexander Deineka, Andrej Gontscharow, Alexander Labas, Sergej Lutschischkin, Juri Pimenow, Konstantin Wjalow, Pjotr Wiljams und weitere. Diese neue Künstler*innengeneration lieferte mit ihrer neo-figurativen, aber modernen Malerei und Grafik den entscheidenden künstlerischen Beitrag zur bewussten Wahrnehmung der Revolution, jedoch noch fernab von der zehn Jahre später verordneten Doktrin des „Sozialistischen Realismus“.

Vorläuferinnen dieses in den 1930er-Jahren staatstragenden Scheinrealismus waren vielmehr die in der „Assoziation der Künstler des Revolutionären Russland“ (AChRR) zusammengeschlossenen Anti-Modernist*innen. Nachdem diese Gruppierung 1929 in Berlin mit einer Ausstellung aufgetreten war, zog die Ende 1927 in Moskau gegründete Vereinigung der Konstruktivist*innen OKTJABR nach und veranstaltete 1930 in Berlin und weiteren deutschen Städten eine umfangreiche Ausstellung. Ihr Gründungsmanifest hatte der deutsche Kulturpolitiker und Schriftsteller Alfred Kurella verfasst, der von 1927 bis 1929 Leiter der Abteilung Bildende Kunst im Volkskommissariat für Volksbildung der RSFSR war. Zusammen mit dem ungarischen, in Moskau lebenden Kunstkritiker Iwan Matza, dem russischen Kunsthistoriker Alexej Fjodorow-Dawydow und mit Pawel Nowitzki, dem Direktor des dem deutschen Bauhaus sehr vergleichbaren WChUTEIN, formulierte Kurella in Publikationen und Vorträgen die Prinzipien und Argumente für diese Assoziation revolutionärer Konstruktivist*innen, die sich in verschiedene Sektionen unterteilte: die Architekt*innen mit Moissej Ginsburg und den Wesnin-Brüdern; die Filmemacher*innen mit Sergej Eisenstein, Dsiga Wertow und Esfir Schub; die Fotografinnen mit Alexander Rodtschenko, Boris Ignatowitsch, Elea- sar Langman, die Fotomonteur*innen mit Gustavs Klucis, Valentina Kulagina, Sergej Senkin, Natalja Pinus, die Typograf*innen mit El Lissitzky, Solomon Telingater, Nikolai Sedelnikow, Elbrus Gutnow und Faik Tagirow sowie der junge OKTJABR unter der Leitung von W. Kostin - um nur einige der illustren Namen zu nennen.

Auf Vermittlung von Alfred Kurella konnte die umfangreiche Ausstellung des OKTJABR von der deutschen ASSO (Assoziation revolutionärer bildender Künstler) 1930 in der Berliner Münzstraße 24 eröffnet werden. Kurella arbeitete zur gleichen Zeit, 1930/31, mit Bertolt Brecht und Walter Benjamin in Berlin an der Herausgabe einer Zeitschrift mit dem Namen Krise und Kritik, die jedoch nie erschien. Mitglied im OKTJABR war auch der mit Brecht und Benjamin befreundete Schriftsteller und Kunsttheoretiker Sergej Tretjakow, der ebenfalls eine gesellschaftlich ,operative‘ oder ,eingreifende‘ Kunst mit modernsten kunsttechnischen Methoden und Medien vertrat. Deshalb war in dieser letzten Vereinigung der russischen Konstruktivist*innen nur ein einziger Maler vertreten, Alexander Deineka, der zu dieser Zeit mehr als Grafiker denn als Maler arbeitete. Ihre ästhetischen Wurzeln in der geometrischen Abstraktion des Suprematismus verleugneten die Konstruktivist*innen des OKTJABR nicht: 1929 organisierte Alexej Fjodorow-Dawydow als Leiter der Abteilung für moderne russische Kunst (1929-1934) in der Moskauer Tretjakow-Galerie die letzte monografische Ausstellung von Malewitsch. Im Jahr darauf wurde Malewitsch für zwei Wochen festgenommen und verhört, vor allem wegen seines mehrmonatigen Aufenthaltes in Deutschland im Jahr 1927, wo er intensive Kontakte zum Dessauer Bauhaus und zu Künstlerinnen und Architektinnen in Berlin gepflegt hatte. 70 Gemälde, die 1927 zeitlich parallel zur Großen Berliner Kunstausstellung gezeigt wurden, ließ er in Hannover beziehungsweise Berlin zurück, wo sie den Krieg überstanden, 1951 wiederentdeckt und 1958 vom Stedelijk Museum in Amsterdam erworben wurden.

Leporello zur Ausstellung PRESSA, Köln 1928
Leporello zur Ausstellung PRESSA, Köln 1928. Gestaltung El Lissitzky

In der legendären Kölner Ausstellung PRESSA erregten 1928 die OKTJABR-Mitglieder El Lissitzky, Gustav Klucis und Sergej Senkin mit ihrem riesigen Fotomontagefries und ihren dreidimensionalen, zum Teil beweglichen Typo-Foto-Installationen großes Aufsehen. Auch bei der in die Fotogeschichte als Meilenstein der Neuen Fotografie eingegangenen Stuttgarter Ausstellung Film und Foto 1929 machte die Foto- und Filmsektion des OKTJABR das Rennen, wobei El Lissitzky für die dynamisch konstruktive Präsentation verantwortlich zeichnete. Die Sektion der Fotomonteurinnen des OKTJABR konnte noch einmal 1931 mit einem Aufmerksamkeitserfolg in der umfassenden Ausstellung Fotomontage im Berliner Lichthof des ehemaligen Kunstgewerbemuseums punkten. Der kreative und intellektuelle Kopf der Gruppe, Gustavs Klucis, verfasste im Ausstellungskatalog den einleitenden Artikel „Fotomontage in der UdSSR“ zu dieser letzten Schau, in der die russischen Konstruktivist*innen ihr Konzept einer operativ eingreifenden Kunst der Öffentlichkeit in Deutschland präsentieren konnten. Danach wurde der OKTJABR gezwungen, sich selbst aufzulösen: Die avantgardistischen Tendenzen wurden am Ende des Jahres 1931 in der Sowjetunion nicht mehr geduldet. 1932 folgte der Beschluss über die Auflösung aller bis dahin selbstständigen Künstlerinnengruppen und die Verordnung eines zentralen Allunions-Künstlerverbandes, der die Debatten über eine mit den Techniken der künstlerischen Moderne operierende Kunst endgültig beendete. Der Stalinismus vollzog, ebenso wie das NS-Regime in Deutschland, den radikalen Bruch mit allen Formen der Moderne in den Künsten.

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts steht im Schatten des Zweiten Weltkriegs: Über Jahrzehnte prägen Traumata und Misstrauen die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland. Viel stärker noch als der Erste Weltkrieg vermochte der Zweite Weltkrieg die Erinnerungen an die vielen fruchtbaren Kontakte zwischen den Künstlerinnen beider Nationen in den 1910er- und 1920er-Jahren zu verschütten. Die Unterdrückung, Diffamierung und Verdrängung der künstlerischen Avantgarde während der 1940er-, 1950er- und 1960er-Jahre in der Sowjetunion trug ein Übriges dazu bei, dass sie während dieser Periode ganz aus dem Gesichtsfeld der Öffentlichkeit verschwand.

 

Späte Wiederentdeckung

Einen ersten fundierten Überblick über die damals im Osten unzugänglich verschlossene Epoche der Russischen Avantgarde gab The Great Experiment von Camilla Gray, eine umfangreiche Publikation, die 1962 in London und im Kölner DuMont-Verlag erschien. Auf Grays Idee ging auch eine Ausstellung in der Londoner Hayward Gallery im Jahr 1972 zurück, die unter dem Titel Art in Revolution:Soviet Art and Design since 1917 erstmals Leihgaben aus sowjetischen Museen sowie aus westlichen Privatsammlungen und Rekonstruktionen wie den Tatlin-Turm zeigen konnte. Zur Überraschung der Veranstaltenden mussten jedoch kurz vor der Eröffnung auf Anordnung der sowjetischen Leihgeber*innen die Rekonstruktion von Lissitzkys Kabinett der Abstrakten geschlossen und die abstrakten Gemälde von Malewitsch abgehängt werden. Die Ausstellung war nach dem Londoner Auftakt unter dem Titel Kunst in der Revolution. Architektur, Produktgestaltung, Malerei, Plastik, Agitation, Theater, Film in der Sowjetunion 1917-1932 im Frankfurter Kunstverein und anschließend in Stuttgart und Köln zu sehen. Die deutsche Fassung der Ausstellung musste ohne die russischen Leihgaben auskommen, die in London zurückgezogen worden waren. Für den Katalog verfassten Eckhart Gillen und ich einen Artikel über die Künstler*innen der Gruppe OST (1925-1929), der damals im Westen noch ganz unbekannte Malerinnen wie Alexander Deineka, Juri Pimenow, Konstantin Wjalow und Pjotr Wiljams vorstellte, auch wenn diese in der Ausstellung nicht zu sehen waren.

1971 reisten Eckhart Gillen und ich in die Sowjetunion, um zu versuchen, mit Leihgaben aus sowjetischen Museen eine Ausstellung zur Russischen Avantgarde in ihrer ganzen Vielfalt zu organisieren. Die Kontakte und Gespräche nahmen ihren Anfang in der Tretjakow-Galerie bei dem altehrwürdigen Direktor Polikarp Lebedew, der immerhin in den 1960er-Jahren einen Dokumentenband zur russischen Kunst des 20. Jahrhunderts mit Texten herausgegeben hatte, in denen auch die Avantgarde zu Wort kam. Im Grunde war das Buch eine gekürzte Fassung der umfangreichen, immer noch vorbildlichen Textsammlung, die der Theoretiker des Konstruktivismus und Mitglied des OKTJABR, Iwan Matza, 1933 in Moskau herausgegeben hatte. Auf Grundlage dieser beiden Publikationen entstand der von Eckhart Gillen und mir 1979 herausgegebene und kommentierte Dokumentenband Zwischen Revolutionskunst und Sozialistischem Realismus. Unsere Verhandlung mit den Museen und dem Kulturministerium zogen sich bis 1977 hin, als nach langer, aber immer kollegialer Vorbereitungszeit die Ausstellung Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927-1933[1] in der Akademie der Künste im Berliner Hansaviertel eröffnet werden konnte. Erstmals waren in dieser Schau im Westen ausschließlich Leihgaben aus sowjetischen Museen zu sehen, vor allem aus der Staatlichen Tretjakow-Galerie, dem Staatlichen Schtschussew-Museum und der Staatlichen Lenin-Bibliothek, alle in Moskau, sowie aus dem Russischen Museum in Leningrad. Das Gleiche gilt für die bedeutende, von Klaus Gallwitz ebenfalls 1977 im Städelschen Kunstinstitut in Frankfurt am Main kuratierte Ausstellung Russische Malerei 1890-1917, in der wie in Berlin zum ersten Mal in der Bundesrepublik Werke der Russischen Avantgarde aus sowjetischen Museen gezeigt werden konnten. Während die Leihgaben hier ausschließlich aus staatlichen Sammlungen stammten, präsentierte die dritte große Ausstellung in diesem Jahr Werke aus der in Moskau seit 1946 zusammengetragenen Privatsammlung des legendären Sammlers griechischer Abstammung George Costakis: Werke aus der Sammlung Costakis. Russische Avantgarde 1910-1930 wurde unmittelbar nach Costakis' Ausreise aus der Sowjetunion im Kunstmuseum Düsseldorf gezeigt. Auch diese Schau präsentierte dem Publikum erstmals viele bisher unbekannte Namen und Werke der Russischen Avantgarde. Die zwei Jahre später im Pariser Centre Pompidou unter der Leitung von Pontus Hulten eröffnete Ausstellung Paris - Moscou 1900-1930, die international weit mehr Schlagzeilen machte als ihre Vorgängerinnen, bot in ihrem russischen Part dann gleichsam eine groß angelegte Synthese aus den drei 1977 in Deutschland gezeigten Ausstellungen.

 

Kunst-Diplomatie im Kalten Krieg

Erste Schritte einer Zusammenarbeit zwischen russischen und deutschen Museen und Ausstellungshäusern waren mit diesen drei Ausstellungen getan, dennoch wurde die vorsichtige, wenn auch freundliche Annäherung weiterhin von Konflikten begleitet. So bestand zum Beispiel die russische Seite auf dem Ausstellungstitel „Kunst aus der Revolution“, während wir an unserem programmatischen Titel „Kunst in die Produktion“ festhielten. Das Ergebnis dieser Meinungsverschiedenheit war nicht nur ein zweifacher Titel der Ausstellung, sondern auch ein zweifacher Katalog. Die Farbseiten wurden mit einem einleitenden Essay des stellvertretenden Direktors der Tretjakow-Galerie, Vitali Manin, in einem schmalen Extraband gedruckt. Auf dessen Umschlag war der Titel Kunst aus der Revolution zu lesen, während die Essays der deutschen Arbeitsgruppe in einem nur schwarz-weiß gedruckten Band gleichen Formats erschienen, der den Titel Kunst in die Produktion trug. Wenn offizielle Besucher*innen aus der Sowjetunion in die Ausstellung kamen, wie zum Beispiel Pjotr A. Abrassimow, der russische Botschafter in Ostberlin, musste der Essayband unter dem Verkaufstisch verschwinden. Doch mit solchen Kleinigkeiten ließ es sich leben. Schwieriger war schon der nächste Konflikt. Für den Katalog der Ausstellung Majakovskij - 20 Jahre Arbeit, die 1978 von den Kurator*innen der Ausstellung Kunst aus der Revolution - Kunst in die Produktion in Zusammenarbeit mit dem Majakowski. Museum in Moskau organisiert worden war und im Februar in Berlin eröffnete, hatte der Ostberliner Slawist Fritz Mierau einen Artikel zum Freitod von Majakowski verfasst, den zu publizieren uns der russische Konsul in Westberlin untersagte. Der Artikel wurde dennoch in den Katalog aufgenommen. Zu einem weiteren politischen Konflikt kam es im gleichen Jahr bei der Zusammenarbeit für die Ausstellung Paris - Moscou, für die von westlicher Seite ursprünglich eine Dreierkonstellation vorgesehen war: Paris - Moscou - Berlin. Wegen des Sonderstatus von Berlin wurde diese Kombination von sowjetischer Seite nicht geduldet. So kam es letztlich nicht nur zu zwei Katalogen für eine Ausstellung wie in Berlin 1977, sondern zu zwei separaten Ausstellungen. Paris - Berlin 1900-1933 wurde 1978 unter der kuratorischen Leitung von Werner Spies im Pariser Centre Pompidou eröffnet, Paris - Moscou 1900-1930 ein Jahr später an gleicher Stelle.

Auf dem längeren Weg der Annäherung der unterschiedlichen Positionen stellt die Ausstellung Kasimir Malewitsch. Werke aus sowjetischen Sammlungen einen höchst widersprüchlichen Wegweiser dar, der bei den Beteiligten Verwirrung stiftete. Alle vorhergehenden Werkschauen des neben Kandinsky bekanntesten Künstlers der Russischen Avantgarde hatten ohne die Bilder der sowjetischen Museen auskommen müssen. Jürgen Harten, dem damaligen Direktor der Städtischen Kunsthalle Düsseldorf, gelang es dann 1980 zum ersten Mal eine Ausstellung des führenden Kopfes der Avantgarde zu präsentieren, die sich nun ausschließlich aus den hierzulande fast gänzlich unbekannten Werken aus den Depots des Russischen Museums in Leningrad und der Tretjakow-Galerie in Moskau zusammensetzte. Der Wermutstropfen war das Verbot vonseiten der russischen Leihgeber*innen, diese Werkschau mit Gemälden aus westlichen Museen zu ergänzen. Vorgesehen war von beiden Seiten, die Ausstellung nach Düsseldorf auch in der Hamburger Kunsthalle und in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu zeigen. Der seit 1978 in Bonn amtierende russische Botschafter Wladimir Semjonow, selbst ein Sammler der gemäßigten Russischen Avantgarde, hatte sich für das Zustandekommen dieser bereits öffentlich angekündigten Tournee stark gemacht - ein hoch zu schätzendes Novum im bilateralen Kulturaustausch zwischen den beiden Staaten. Kurz vor dem Ende der ersten Station in Düsseldorf erklärte jedoch das russische Kulturministerium zum Erstaunen und zur Verbitterung der deutschen Partnerinnen, dass die Werke unverzüglich nach Russland zurückgebracht werden müssten. Das allgemeine Rätseln über diese Entscheidung in der deutschen Kunstwelt und Presse fand erst viele Jahre später seine Auflösung, als Wladimir Semjonow Jürgen Harten erklärte, der führende Partei ideologe der KPdSU, Michail A. Suslow, habe während der Laufzeit der Düsseldorfer Ausstellung einen Artikel gegen Malewitsch in der Prawda lanciert, um die sofortige Rückholung der Exponate zu bewirken. Gegen Suslow konnte sich auch der wohlmeinende Botschafter nicht durchsetzen. Zum Glück für alle Beteiligten sind diese Zeiten lange vorbei.

Ungeachtet der konsternierten deutschen Medienöffentlichkeit hinderte dieser Vorfall Jürgen Harten nicht daran, die Vereinbarung mit dem sowjetischen Kulturministerium einzuhalten: Sie sah insgesamt fünf Ausstellungen Russischer Avantgarde in der Kunsthalle Düsseldorf vor. 1982 folgte der Malewitsch-Schau die erste Ausstellung von Alexander Deineka im Westen mit ausschließlich russischen Leihgaben; parallel dazu zeigte das Lehmbruck-Museum in Duisburg eine Retrospektive von Alexander Rodtschenko, zum größten Teil mit Werken aus Museen der UdSSR. 1989 fand vom 25. bis zum 27. November das internationale Tatlin-Symposium in der Kunsthalle Düsseldorf statt, mit starker Beteiligung russischer Spezialist*innen. Es bereitete die erste Retrospektive des Künstlers und Gegenspielers von Malewitsch vor, die dann 1993 in Düsseldorf gezeigt wurde. Zunächst aber war dort 1990 die große Ausstellung Pawel Filonow und seine Schule zu sehen und 1997 - den Reigen der Häupter der Russischen Avantgarde abschließend - die umfassende Schau ihres großen Vorläufers und Vorbildes Michail Wrubel, die danach auch Station im Haus der Kunst in München machte.

 

Neue Werke, neue Freundschaften

Als Kontrapunkt zu diesen monografischen Ausstellungen bereitete eine vielköpfige deutsch-russisch-amerikanische Arbeitsgruppe in den Jahren 1988 bis 1992 die bisher umfassendste Ausstellung zur Russischen Avantgarde vor, die unter dem Titel Die Große Utopie in der Frankfurter Schirn, im Stedelijk Museum Amsterdam und schließlich im Guggenheim Museum in New York gezeigt wurde. Auf Grundlage der bisher gemachten Forschungen, Ausstellungen und Erfahrungen zu dieser so bedeutenden Epoche der modernen Kunst sollte die mehr als 1.000 Exponate umfassende Schau nichts weniger sein als ein Mosaik aller Richtungen, Tendenzen und Kunstgattungen innerhalb der Russischen Avantgarde. Eine große Synthese, die vor allem auch deshalb zustande kam, weil hier zum ersten Male von russischer Seite die Depots der zahllosen Provinzmuseen erschlossen wurden: In ihnen schlummerten viele Werke, die in den 1920er-Jahren durch die Selbstorganisation der Künstler*innen dorthin geschickt und bisher so gut wie nie zu sehen waren. Die Ausstellung bot den Besucher*innen damit also nicht nur ein umfassendes Bild der Avantgarde, sondern auch überwältigend viele erstmals gezeigte Werke, von denen zahlreiche spätere Ausstellungen zum Thema in aller Welt profitiert haben.

Die über Jahre in den drei Ländern stattfindenden Arbeitssitzungen führten zu einer intensiven und auf gegenseitigem Verständnis beruhenden Geistesgemeinschaft der Beteiligten, aus der so manche lange währende Freundschaft hervorgegangen ist - eine Erfahrung, die keines der Mitglieder missen mochte. Wenn es einen Grundwiderspruch in den streitbaren Diskussionen in dieser Gruppe gegeben hat, so war es einer mit nunmehr umgekehrten Vorzeichen: Die Teilnehmenden aus den USA legten Wert auf eine soziologische Sichtweise der Avantgarde, die ihre sozial engagierten Zielsetzungen hervorhob, während die russischen Kunstwissenschaftler*in- nen die absolute Autonomie der Kunst gegen deren In- dienstnahme für politische und gesellschaftliche Zwecke verteidigten. Als Mitteleuropäerin sah man sich dazu aufgefordert, zwischen beiden Positionen zu vermitteln. Dies gelang im freundschaftlichsten Einvernehmen.

 

Ausblicke

Den ideellen Leitlinien der Ausstellung Kunst in die Produktion von 1977 folgend, habe ich selbst den konstruktivistischen Ansatz einer mit neuesten technischen Mitteln arbeitenden operativen, bewusstseinserweiternden und ins Leben eingreifenden Kunst verfolgt: in Einzelausstellungen zu Gustavs Klucis und Solomon Telingater, in thematischen Ausstellungen zum Nachleben des Schwarzen Quadrates von Malewitsch in der Kunst bis in die Gegenwart oder Gu zum Bild des Müden Helden bei Ferdinand Hodler, Alexander Deineka und Neo Rauch sowie in zwei Büchern zum Werk von Alexander Rodtschenko. Nachdem in den vergangenen 50 Jahren in Deutschland so viele interessante und erfolgreiche Ausstellungen zur Kunst der Russischen Avantgarde gezeigt worden sind, bleibt eine umfassende Ausstellung und Publikation zur Konstruktivist*innengruppe des OKTJABR eines der Desiderate, die noch auf ihre Verwirklichung warten. Die große Utopie hat einen Anfang gemacht, die 2018 im Art Institute in Chicago gezeigte Schau Revoliutsiia! Demonstratiia! Soviet Art Put to the Test wies in diese Richtung und ebenso, im gleichen Jahr, eine Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim, die zusammen mit der Tretjakow-Galerie organisiert worden war: Die Konstruktion der Welt. Kunst und Ökonomie 1919-1939.

Der seit dem 18. Jahrhundert andauernden fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Museen, Kunstwissenschaftler*innen und Künstlerinnen steht noch eine weite Zukunft bevor. Dazu tragen glanzvolle Ausstellungsereignisse ebenso bei wie nüchterne Forschungsprojekte, die unser Wissen über die so vielfältigen Aspekte der russischen Kunst mehren. Zu den Forschungsprojekten gehört die eingangs erwähnte Kölner Ausstellung Russische Avantgarde im Museum Ludwig - Original und Fälschung. Unter Leitung der stellvertretenden Direktorin Rita Kersting und der Chefrestauratorin Petra Mandt haben die Wissenschaftler*innen nicht nur zahlreiche Fälschungen identifiziert, sondern nun auch Gewissheit über den Bestand erstklassiger, zweifelsfrei authentischer Werke, die den deutschen und internationalen Besucher*innen die Vitalität der Kunst jener Zeit vor Augen führen. Insofern sei dem mutigen Unternehmen der Kölner Museumsdirektion zahlreiche Nachahmung gewünscht.

Weitere Ereignisse, die den Dialog fortführen, sind angekündigt: die Ausstellung zum russischen Impressionismus im Potsdamer Museum Barberini; die große Ausstellung zur Romantik in der Tretjakow-Galerie und den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 2021; die Rekonstruktion der Ersten Russischen Kunstausstellung 1922 einhundert Jahre später durch die Staatlichen Museen in Berlin; eine gemeinsam von der Hamburger Kunsthalle und der Sankt Petersburger Eremitage geplante Schau (2023/24) zu den russischen Beziehungen des großen deutschen Romantikers Caspar David Friedrich - weitere Meilensteine auf dem ganz besonderen Weg der deutsch-russischen Kunstbeziehungen.

 

  1. Im Rahmen der Ausstellung kam es zu 2 Veröffentlichungen: Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927-1933: [ Katalog] / Neue Ges. für Bildende Kunst Berlin (West) in Zsarb. mit der Staatlichen Tretjakov-Galerie Moskau, UdSSR ; [Organisationsleitung Christiane Bauermeister-Paetzel, Eckhart Gillen]. Berlin : Neue Ges. für Bildende Kunst Berlin (West), 1977; Kunst in die Produktion! Sow. Kunst während der Phase der Kollektivierung u. Industrialisierung, 1927-1933 Materialien anläßlich der Ausst. "Kunst aus der Revolution", Akad. der Künste, Berlin (West), 20. Febr. bis 31 März 1977.
Abbildungen
KASIMIR MALEWITSCH. Bildnis eines Erbauers. 1913
KASIMIR MALEWITSCH. Bildnis eines Erbauers. 1913
Bleistift auf Papier. 49,6 × 33,4 cm
© Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
OLGA ROSANOWA. Skizze eines ornamentalen Bandes. 1917
OLGA ROSANOWA. Skizze eines ornamentalen Bandes. 1917
Gouache, Aquarell, Bronzefarbe auf Papier. 18,4 × 36,5 cm
Privatsammlung
LJUBOW POPOWA. Malerische Architektonik mit gelbem Brett. 1916
LJUBOW POPOWA. Malerische Architektonik mit gelbem Brett. 1916
Öl auf Leinwand. 89 × 71,3 cm
© Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
KASIMIR MALEWITSCH. Ohne Titel. 1916
KASIMIR MALEWITSCH. Ohne Titel. 1916
Öl auf Leinwand. 53,5 × 53 cm
Peggy Guggenheim Collection, Venedig (Solomon R. Guggenheim Foundation, New York)
WASSILI KANDINSKY. Komposition VII. 1913
WASSILI KANDINSKY. Komposition VII. 1913
Öl auf Leinwand. 200 × 300 cm
© Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
Blick in die Tatlin-Ausstellung. Kunsthalle Düsseldorf. 1993
Blick in die Tatlin-Ausstellung. Kunsthalle Düsseldorf. 1993
Umschlag des Buches: Vladimir Tatlin. Leben, Werk, Wirkung: ein internationales Symposium. Kunsthalle Düsseldorf 1989
Umschlag des Buches: Vladimir Tatlin. Leben, Werk, Wirkung: ein internationales Symposium. Kunsthalle Düsseldorf 1989
IWAN PUNI. Stillleben mit Flasche und Birnen. 1923
IWAN PUNI. Stillleben mit Flasche und Birnen. 1923
Öl auf Leinwand. 64 × 44 cm
Privatsammlung, Moskau
Iwan Puni in seinem Berliner Atelier
Iwan Puni in seinem Berliner Atelier
Foto: Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst
„Sandwich-Menschen“ in von Iwan Puni entworfenen Kostümen bei einem Umzug durch die Berliner Straßen anlässlich der Eröffnung der Puni-Ausstellung in der Galerie Der Sturm, 1922
„Sandwich-Menschen“ in von Iwan Puni entworfenen Kostümen bei einem Umzug durch die Berliner Straßen anlässlich der Eröffnung der Puni-Ausstellung in der Galerie Der Sturm, 1922
Foto: Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst
Ausstellungsansicht Blick in die Erste Russische Kunstausstellung mit Werken von Wladimir Tatlin, Naum Gabo, Alexander Rodtschenko, El Lissitzky u.a., Berlin 1922
Ausstellungsansicht Blick in die Erste Russische Kunstausstellung mit Werken von Wladimir Tatlin, Naum Gabo, Alexander Rodtschenko, El Lissitzky u.a., Berlin 1922
EL LISSITZKY. Vorsatzblatt für das Buch Suprematische Geschichte von zwei Quadraten in sechs Konstruktionen, Berlin 1922
EL LISSITZKY. Vorsatzblatt für das Buch Suprematische Geschichte von zwei Quadraten in sechs Konstruktionen, Berlin 1922
EL LISSITZKY. Proun Nr. 43. 1922
EL LISSITZKY. Proun Nr. 43. 1922
Mischtechnik auf Holz. 66,8 × 49 cm
© Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
NAUM GABO. Modell für Konstruktiven Kopf Nr. 3. 1917
NAUM GABO. Modell für Konstruktiven Kopf Nr. 3. 1917
Karton. 61 × 48,5 × 34,5 cm
Sammlung Annely Juda Fine Art, London
WLADIMIR LEBEDEW. Kubismus Nr. 1 (Mannequin). 1921
WLADIMIR LEBEDEW. Kubismus Nr. 1 (Mannequin). 1921
Öl auf Leinwand. 120 × 67 cm
© Staatliches Russisches Museum, Sankt Petersburg
KASIMIR MALEWITSCH. Bildnis Michail Matjuschin. 1913
KASIMIR MALEWITSCH. Bildnis Michail Matjuschin. 1913
Öl auf Leinwand. 106,5 × 106,5 cm
© Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
George Costakis in seiner Wohnung, 1970er-Jahre
George Costakis in seiner Wohnung, 1970er-Jahre
Foto: Igor Palmin.
© MOMus-Museum of Modern Art-Costakis Collection, Thessaloniki
Plakat zur Ausstellung Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst wдhrend der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927–1933
Plakat zur Ausstellung Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst wдhrend der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927–1933
nGbK Berlin, 1977
Titelseite des Katalogs zur Ausstellung Moskva – Parizh / Paris – Moscou 1900 – 1930
Titelseite des Katalogs zur Ausstellung Moskva – Parizh / Paris – Moscou 1900 – 1930
Staatliches Museum für Bildende Künste A. S. Puschkin, Moskau 1981
Vernissage der Ausstellung Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927–1933
Vernissage der Ausstellung Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927–1933
NGBK Berlin, 1977. Gruppenfoto, von links nach rechts: Christian Borngräber, Eckhart Gillen, Tina Bauermeister, Hubertus Gaßner, auf der rechten Seite zwei Kuratorinnen/ Restauratorinnen aus der Sowjetunion
Foto: nGbK Berlin / Jürgen Henschel
JURI PIMENOW. Her mit dem Aufbau der Schwerindustrie! 1927
JURI PIMENOW. Her mit dem Aufbau der Schwerindustrie! 1927
Öl auf Leinwand. 260 × 212 cm
© Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
ALEXANDER DEINEKA. Beim Bau neuer Werkhallen. 1926
ALEXANDER DEINEKA. Beim Bau neuer Werkhallen. 1926
Öl auf Leinwand. 213 × 201 cm
© Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau
Verkleinerte Rekonstruktion der Tribune vor dem Winterpalais, Leningrad, 1930
Verkleinerte Rekonstruktion der Tribune vor dem Winterpalais, Leningrad, 1930,
Kunstlergruppe IZORAM (Kunst der Arbeiterjugend). Ausstellung Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927–1933
nGbK Berlin, 1977. Foto: nGbK Berlin
Verkleinerte Rekonstruktion der Tribune vor dem Winterpalais, Leningrad, 1930
Verkleinerte Rekonstruktion der Tribune vor dem Winterpalais, Leningrad, 1930,
Kunstlergruppe IZORAM (Kunst der Arbeiterjugend). Ausstellung Kunst aus der Revolution: Sowjetische Kunst während der Phase der Kollektivierung und Industrialisierung, 1927–1933
nGbK Berlin, 1977. Foto: nGbK Berlin
ALEXANDER RODTSCHENKO. Konstruktion. 1920
ALEXANDER RODTSCHENKO. Konstruktion. 1920
Farbige und schwarze Tusche auf Papier. 32,4 × 19,7 cm
Museum of Modern Art (MoMA), New York
Titelseite des Kataloges zur Ausstellung Kasimir Malewitsch. Werke aus sowjetischen Sammlungen. 1980
Titelseite des Kataloges zur Ausstellung Kasimir Malewitsch. Werke aus sowjetischen Sammlungen. 1980
Sammlungen Kunsthalle Düsseldorf
Blick in die Ausstellung Kasimir Malewitsch. Werke aus sowjetischen Sammlungen. Kunsthalle Düsseldorf 1980
Blick in die Ausstellung Kasimir Malewitsch. Werke aus sowjetischen Sammlungen. Kunsthalle Düsseldorf 1980
Titelseite des Kataloges zur Ausstellung Majakovskij – 20 Jahre Arbeit, nGbK Berlin, 1978
Titelseite des Kataloges zur Ausstellung Majakovskij – 20 Jahre Arbeit, nGbK Berlin, 1978
Blick in die Ausstellung Kasimir Malewitsch. Werke aus sowjetischen Sammlungen. Kunsthalle Düsseldorf 1980
Blick in die Ausstellung Kasimir Malewitsch. Werke aus sowjetischen Sammlungen. Kunsthalle Düsseldorf 1980
Eröffnung der Ausstellung Die große Utopie, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1992
Eröffnung der Ausstellung Die große Utopie, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1992
© Schirn Kunsthalle Frankfurt, Foto: Rudolf Nagel
Ausstellungsansicht Die große Utopie, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1992
Ausstellungsansicht Die große Utopie, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1992
Ausstellungsansicht Die große Utopie, Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, 1992
© Schirn Kunsthalle Frankfurt, Foto: Rudolf Nagel

GUSTAVS KLUCIS. Lauf. Fotomontage aus der Postkartenserie für die Allunions-Spartakiade in Moskau. 1928

GUSTAVS KLUCIS. Lauf. Fotomontage aus der Postkartenserie für die Allunions-Spartakiade in Moskau. 1928
15,5 × 11,5 cm
GUSTAVS KLUCIS. Fußball. Fotomontage aus der Postkartenserie für die Allunions-Spartakiade in Moskau. 1928
GUSTAVS KLUCIS. Fußball. Fotomontage aus der Postkartenserie für die Allunions-Spartakiade in Moskau. 1928
15,5 × 11,5 cm

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