FOKUS KUNSTSZENE BERLIN. Die Stadt, die sich immer wieder neu erfindet
* Stefanie Gerke (*1984) promovierte als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Mitbegründerin der Agentur für Kunstführungen „Niche Berlin“ ( http://nicheberlin.de )
Die Goldenen 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind Erinnerung, die geteilte Stadt seit dreißig Jahren wiedervereinigt. Heute ist Berlin die wichtigste deutsche Kunstmetropole, ein Magnet für Kulturschaffende, Künstlerinnen und Lebenskünstlerinnen, vor allem aber eine Baustelle in ständiger Veränderung. Ein aktueller Blick auf die Historie und die freie Kunstszene Berlins, wo jenseits der großen öffentlichen Museen das Neue entsteht.
Rirkrit Tiravanijas Werk an der Fassade des Berghain als Auftakt zur Ausstellung „Studio Berlin“, 2020
„Studio Berlin“, Berghain, © Rirkrit Tiravanija, courtesy neugerriemschneider Berlin, Foto: Noshe
„Morgen ist die Frage“: Dieses Statement steht seit Anfang September 2020 in schwarzen Lettern auf einem weißen Transparent, das sich über die gesamte Außenfassade des berühmten Technoklubs Berghain erstreckt. Der Klub residiert seit mehr als 15 Jahren in einem ehemaligen Heizkraftwerk in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs. Aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie musste im März auch das Berghain vorerst alle Feieraktivitäten einstellen. Auf Anregung der Klubbetreiber eröffnete hier stattdessen ein halbes Jahr später eine vieldiskutierte Ausstellung - Kunst statt Party im berühmtesten Klub der Stadt. Das passt zu Berlin. Die Schau ist symptomatisch für das, was die Kunstmetropole Berlin ausmacht: interessante Räumlichkeiten und die Eigeninitiative der Akteur*innen.
ELAINE STURTEVANT. Installation auf der „abc - Art Berlin contemporary“
Foto: Marco Funke
Unter dem Titel Studio Berlin hat das Sammlerpaar Karen und Christian Boros, das seine Sammlung dauerhaft in einem ehemaligen Bunker nahe der Berliner Friedrichstraße präsentiert, zusammen mit seiner Sammlungsleiterin Juliet Kothe in den Räumen des Berghain eine Ausstellung mit mehr als einhundert Berliner Künstlerinnen organisiert. Wer angefragt wurde, holte weitere Bekannte an Bord. Monica Bonvicini ist dabei, Tacita Dean, Simon Fujiwara, Adrian Piper, Jeremy Shaw. Das Banner mit dem Spruch an der Fassade stammt von Rirkrit Tiravanija. Die meisten der ausgestellten Werke nehmen Bezug auf diesen sagenumwobenen Ort des Exzesses - oder auf die eingängige Erfahrung des Kunstschaffens während des Lockdowns.
Installationansicht „Welt am Draht“ Julia Stoschek Collection, Berlin. Vorne: NEIL BELOUFA, Jaguacuzzi. 2015
Mixed-Media-Videoinstallation Hintergrund: TIMUR SI-QIN, In Memoriam 9. 2015
Aluminiumbox mit LED-Lichtsystem. Foto: Simon Vogel
„Die Schau ist eine melancholische Selbstvergewisserung der hauptstädtischen Kunstszene in der Krise“, schreibt Daniel Völzke in der Berliner Kunstzeitschrift Monopol über Studio Berlin.[1] Dabei bezieht sich der Begriff Krise nicht allein auf die prekäre Situation der Kunstwelt in Zeiten von Ausstellungsschließungen, Reiserestriktionen und Veranstaltungsabsagen aufgrund von Covid-19. Schon im Frühjahr dieses Jahres raunte die Berliner Kunstszene von einem ,Exodus‘. Immer mehr Galerien würden aufgeben, immer mehr Sammlerinnen die Stadt verlassen, weil die Politik sich nicht genügend um sie kümmere. Zuletzt hatte die prominente Sammlerin Julia Stoschek damit gedroht, ihre hervorragende Medienkunstsammlung aus Berlin abzuziehen, nachdem die Miete für ihre Räume in der Leipziger Straße erhöht worden war. Dabei hatte sie knapp eine Million Euro in die Renovierung der Räumlichkeiten, ein ehemaliges tschechoslowakisches Kulturzentrum aus DDR-Zeiten, investiert. „Warum kollabiert die Kunsthauptstadt?“, fragte daraufhin Kolja Reichert in einer deutschen Tageszeitung Ende Mai.[2] Eine klare Antwort scheint es darauf nicht zu geben. Medienberichte wie dieser verdeutlichen vor allem die Angst, der ,Boom‘ der deutschen Kunsthauptstadt könne nun ein für alle Mal passe sein. Berlin ist in der Krise - oder ist diese nur herbeigeredet?
Die Frage, ob Berlin „vorbei“ sei, stellt sich tatsächlich regelmäßig. „Der Zweifel ist [...] virulent, seit Mitte der 90er Jahre in Berlin die Konsolidierungsphase einsetzte“, ist in einem Buch über die Entwicklung der Berliner Kunstszene seit der Wiedervereinigung zu lesen.[3] Alle Zugezogenen treibe das Gefühl um, etwas verpasst zu haben. Aber vielleicht liegt genau darin der Grund für den ungebrochenen Selbsterneuerungstrieb der Berliner Kunstszene, vermuten die Autorinnen. Vielleicht handelt es sich bei der aktuellen Entwicklung also nur um Wachstumsschmerzen. Berlin muss nach den Jahren des Aufschwungs schauen, welche Art von Kunstmetropole es wirklich sein kann und will. Glamour, hohe Umsätze oder kaufkräftige Sammlerinnen - das war es noch nie, was die Berliner Kunstszene wirklich ausmacht. Viel Kapital gab und gibt es in Berlin nicht. An dem problematischen Leitspruch, die Stadt sei „arm aber sexy“, den der damalige Bürgermeister Klaus Wowereit 2003 prägte, ist leider etwas dran. Zeitgleich führte ein steter Prozess der Gentrifizierung in einigen Teilen der Stadt in den letzten zehn Jahren zu einem Anstieg der Mietpreise um bis zu 150 Prozent.[4] Die günstigen Mieten, die viele Kunstschaffende nach Berlin gelockt hatten, gehören längst der Vergangenheit an. Der Zuzug an Künstlerinnen ist dennoch groß.[5] Denn was in der Vergangenheit die Attraktivität der deutschen Hauptstadt als Kunststandort ausmachte, gilt auch heute noch: eine gewisse Art von Freigeist und Freiraum. Man vermutet hier flache Hierarchien und Platz für Entwicklung und Gestaltung.
Dieser Eindruck ist auch historisch begründet. Während der Teilung Deutschlands stellte West Berlin gleichsam eine ,Insel‘ im Territorium der damaligen DDR dar. Einerseits zog diese Sonderstellung zahlreiche Pazifist*innen an: Als 1956 in der BRD die Wehrpflicht eingeführt wurde, blieben Bürger West-Berlins wegen der alliierten Vorbehaltsrechte davon ausgenommen. Schätzungen zufolge haben sich etwa 50.000 Wehrpflichtige dem Wehrdienst entzogen, indem sie nach West-Berlin umsiedelten.[6] Dies trug zum Mythos von Berlin als Ort großer persönlicher Freiheit bei. Andererseits setzte nach 1945 ein enormer industrieller Verfall ein. Zahlreiche Firmen kehrten der einst größten Industriestadt Europas aufgrund der unklaren politischen Verhältnisse den Rücken. Zurück blieben große und kleine Industriebrachen, die einer Umnutzung harrten.
Insbesondere nach der Wiedervereinigung wurde Berlin schließlich zu einem Magneten für Menschen, die etwas gestalten wollten. Mit dem Fall der Mauer zog sich mitten durch die Stadt eine Brache. Bezirke und Kieze, die noch einige Jahre zuvor am Rand der jeweiligen Stadthälfte gelegen hatten, rückten plötzlich ins Zentrum. Die Stadt war eine Spielfläche, die neu organisiert werden konnte. Die östlichen Innenstadtbezirke Mitte und Prenzlauer Berg wandelten sich rasant. Besitzverhältnisse waren nach den Enteignungen durch die DDR oft ungeklärt, die Häuser unsaniert, es boten sich Freiräume, die viele Künstlerinnen anzogen. Mit der Zeit ergaben sich interessante Synergieeffekte und Knotenpunkte.
Die Auguststraße in Berlin Mitte ist dafür ein Paradebeispiel. Unweit der Museumsinsel, die nach der Wiedervereinigung aufwendig saniert und zu einem Tourismusmagneten ausgebaut wurde, entwickelte sich in dieser übersichtlichen Straße mit Altbaubestand direkt nach der Wende ein Hotspot für die schnell wachsende Kunstszene. In einer verlassenen Margarinefabrik gründete eine Gruppe um den Medizinstudenten Klaus Biesenbach, heute Direktor des Museum of Contemporary Art (MOCA) in Los Angeles, bereits 1991 die „Kunst-Werke - KW Institute for Contemporary Art“. Als Plattform mit großzügigen und wandelbaren Räumlichkeiten ohne eigene Sammlung boten die „KW“ die Möglichkeit, auf zeitgenössische Entwicklungen zu reagieren. 1998 gründete sich hier außerdem die Berlin Biennale, deren Hauptaustragungsort nach wie vor die Kunst-Werke sind. Im Jahr 2006 wirkte sie als besonderer Katalysator für diesen Kiez: Kuratiert von Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnick bespielte diese vierte Ausgabe der Berlin Biennale ungewöhnliche Ausstellungsorte, die sich allesamt in der Auguststraße befanden. Darunter waren zahlreiche Neuentdeckungen, wie etwa die ehemalige Jüdische Mädchenschule, die wenige Jahre später aufwendig saniert zum Galerienhaus wurde.
4. Berlin Biennale, „Of Mice and Men“, 2006
BRUCE NAUMAN. Rats and Bats (Learned Helplessness in Rats II). 1988
Installationsansicht. Foto: Uwe Walter
Auch für die sich entwickelnde kommerzielle Kunstszene war die Auguststraße das Epizentrum, bevor wichtige Akteur*innen in den Westen der Stadt weiterzogen und sich rund um das ehemalige Tagesspiegel-Gelände südlich des Potsdamer Platzes ansiedelten. Es entwickelte sich eine interessante Konkurrenzsituation mit der in den 1970er- und 1980er-Jahren führenden Kunststadt Köln. „Berlin war vor allem für die Newcomer attraktiv, weil hier, anders als am Rhein, keine verhärteten Hierarchien existierten. Früher oder später siedelten sich aber auch große Teile der Kölner Szene in der neuen alten Hauptstadt an“, schreibt Kito Nedo.[7] Galerien wie Max Hetzler zogen von Köln nach Berlin, Monika Sprüth und Philomene Magers taten sich 1998 in Berlin zu ihrer hervorragenden Galerie Sprüth Magers zusammen, andere Akteur*innen eröffneten in der neuen Bundeshauptstadt zumindest Dependancen. Mit dem Umzug der Zeitschrift Texte zur Kunst um die Kritikerin Isabelle Graw von Köln nach Berlin verlagerte sich eine weitere wichtige Stimme in die Hauptstadt. Auch Sammlerpaare wie Erika und Rolf Hoffmann zog es aus dem Rheinland an die Spree. In einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik in den Hackeschen Höfen machten sie ihre Sammlung an Samstagen für zahlende Gäste zugänglich und boten hier beizeiten mehr Kunst von Rang als die notorisch unterfinanzierten Berliner Museen.
KATHARINA GROSSE. „It Wasn’t Us“. Ausstellungsansicht Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 2020
Courtesy KÖNIG GALERIE, Berlin, London, Tokyo / Gagosian / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder, Wien
© Katharina Grosse / VG Bild-Kunst, Bonn 2020. Foto: Jens Ziehe
Viele Jahre sah es so aus, als würde es in Berlin stetig bergauf gehen, als könnte die Stadt langsam mit London, New York oder Paris mithalten. Unter den etablierten Museen entwickelten sich die Neue Nationalgalerie und der 1996 eröffnete Hamburger Bahnhof, seit 2004 Präsentationsort der Friedrich Christian Flick Collection, zu Top-Adressen für zeitgenössische Kunst. Internationale Kunststars wie Tacita Dean, Douglas Gordon oder Tomäs Saraceno verlagerten Wohnsitz und Atelier in die deutsche Hauptstadt. Ai Weiwei, Hito Steyerl oder auch Ölafur Eliasson erhielten Professuren an der Universität der Künste. Eliasson machte daraus zwischen 2009 und 2014 das innovative Institut für Raumexperimente, das eine ganze Generation von Künstlerinnen hervorbrachte, die den öffentlichen Raum als Spielfeld begreifen.[8]
Doch die Kaufkraft blieb in Berlin stets begrenzt, sehr zum Leidwesen der kommerziellen Kunstszene. Und die Stadt bewies nicht immer ein Händchen für offizielle Kunstprojekte. Die internationale Kunstmesse Art Forum, 1996 auf dem Messegelände als Alternative zur ältesten deutschen Kunstmesse Art Cologne gestartet, blieb erfolglos. Vielleicht auch, weil die sterilen Messehallen als Location einfach nicht zum Spirit dieser Stadt passen wollten. 2008 gründeten einige Berliner Galerien[9] die attraktive Konkurrenzveranstaltung abc - art berlin contemporary, die den Geist der Stadt weitaus besser repräsentierte. Die abc lud 75 Galerien in einen ehemaligen Postbahnhof. Anstelle von Kojen, wie sie sonst auf Messen üblich sind, gab es hier frei stehende Einzelpositionen zu sehen. Aus eigener Kraft der hiesigen Kunstszene geboren, mit dem charmanten Flair ehemaliger Industriehallen: Das funktionierte - zunächst. Die abc wurde ein Publikumserfolg. Nachdem das Art Forum sich vergeblich um eine Fusion beider Messen bemühte, stellte es 2011 den Betrieb ein. Die abc wurde zur treibenden Kraft des Berliner Kunstmarkts. Doch mit den Ansprüchen stieg auch der Verkaufsdruck. Die Koelnmesse, Muttergesellschaft der Art Cologne, stieg ein. Aus der abc wurde die Art Berlin in den charakterstarken Hallen des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Doch 2019 scheiterte auch diese Kooperation.
Das Projekt „Gallery Delivery“ beim „Good To Talk“. Festival 2019
Foto: EIke Walkenhorst
Nun bleiben einige kleinere Messen wie die Positions Art Fair. Eine Kunstmesse von Weltrang hat Berlin momentan nicht.
Viel attraktiver ist stattdessen das Gallery Weekend, gegründet 2005 von einer Reihe privater Galerien. In einem bis dahin nicht gekannten Schulterschluss verabreden sich rund fünfzig Berliner Galerien zu einem gemeinsamen Eröffnungswochenende, das seitdem regelmäßig internationale Sammlerinnen in die Stadt zieht.
Die Geschichten der KW, der abc und des Gallery Weekends zeigen: Die Berliner Kunstszene funktioniert dort am besten, wo sich Initiativen aus der Kunstszene heraus selbst entwickeln, wo die wenigen verbliebenen Ruinen oder Baulücken aufgestöbert und provisorisch umfunktioniert werden, wo Leerstand mit Kunst gefüllt wird und aus eigener Kraft heraus die Chancen genutzt werden, welche die sich rasant wandelnde Stadtlandschaft bietet. Dieser Prozess ist zwar authentisch, aber natürlich auch sehr anstrengend und erfordert entsprechende Finanzkraft. Ohne öffentliche Förderung aber geht es oft nicht. Und offenbar hat die Politik erkannt, welche Rolle die Kunst und insbesondere die lebendige Subkultur für die Attraktivität der Stadt spielen. Berlin verfügt mittlerweile über eine wachsende Reihe an Fördermitteln für junge Protagonist*innen der Kunstszene, beispielsweise die „Auszeichnung für Projekträume und -initiativen“, über die jährlich insgesamt 100.000 Euro ausgeschüttet werden.
„Good To Talk“. Festival 2019
Foto: EIke Walkenhorst
Tatsächlich finden die aufregendsten Ausstellungen häufig in der alternativen Kunstszene statt und nicht selten an ungewöhnlichen, normalerweise „kunstfernen“ Orten. Da ist etwa der von Nele Heinevetter betriebene Projektraum Tropez, idyllisch in einem Park im Bezirk Wedding innerhalb eines charmanten Freibads mit altem Baumbestand gelegen. Als Heinevetter vor einigen Jahren erfuhr, dass der Freibad-Imbiss schließt, kümmerte sie sich um Fördermittel und das nötige Know-how und richtete neben Schwimmbecken und Liegewiese eine Pommes-Bude mit Ausstellungsbetrieb ein. Unter Titeln wie Amour, Voyage oder Reality versammelt sie hier im Sommer Kunstwerke junger Künstlerinnen, die sich ortsspezifisch auf diese besondere Situation einlassen. Sie adressieren ein diverses Publikum, das vielleicht nur wegen der Pommes kommt - aber wegen der Kunst bleibt. Im vergangenen Jahr wurde das Tropez mit dem Projektraumpreis ausgezeichnet.
Ebenfalls im Bezirk Wedding liegt Savvy Contemporary. Der Projektraum ist keineswegs ein Newcomer, bereits seit 2009 ist Savvy ein Ort für den antirassistischen Diskurs in der Kunst. Neu ist allerdings die besondere Aufmerksamkeit, die seinem aufklärerischen Programm zuteilwird. Der Gründer Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und sein Team haben sich auf die Fahne geschrieben, einen Beitrag zur Dekolonisierung der hiesigen Kunstszene zu leisten. Savvy ist ein Ort, der immer wieder dazu auffordert, vermeintliche Differenzen und Kategorien neu zu denken und vor allem den eurozentristischen Blick der hiesigen Kunstwelt zu dekonstruieren. Am 1. Oktober 2020 wurde Ndikung mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet.
Kein Zweifel, es gibt nicht mehr so viele Freiräume in dieser wachsenden und zunehmend saturierten Stadt wie kurz nach der Wende. Und doch wundert man sich noch. Mitten im Zentrum Berlins, am Alexanderplatz, stand seit mehr als zehn Jahren das Haus der Statistik leer. Anstatt dem Verkauf des Areals an Investor*innen zuzusehen, die den prägnanten Bau von 1968 abgerissen hätten, reagierte das Land Berlin auf das Beharren einer Initiative aus Künstler*innen, Architekt*innen und Kulturschaffenden und erwarb die Immobilie. Hier entsteht nun ein gemeinwohlorientiertes Modellprojekt mit „Raum für Kunst, Kultur, Soziales und Bildung, bezahlbares Wohnen“ sowie ein neues Rathaus für das Berliner Bezirksamt Mitte.[10] Berlin hat aus manchen Fehlern gelernt, als etwa Liegenschaften an die meistbietende Partei verkauft wurden statt an jene mit der besten Idee. In gemeinsamen Gesprächen wird im Haus der Statistik nun eruiert, was gebraucht wird. Ab 2024 sollen soziale Projekte und künstlerische Initiativen einziehen. Und diskursfreudig war und ist Berlin sowieso: 2019 haben sich einige Galerien mit „Good to Talk“ zu einem innovativen Diskussionsformat zusammengetan.[11] Ein „talk festival“-Marathon mit interessanten Gesprächspartner*innen zu allem, was relevant erscheint: Hier wird diskutiert über neue Formate, Technologien und Herausforderungen, über Diversität, Inklusion, Antisexismus und Antirassismus. Und immer wieder darüber, wie der Stadtraum genutzt werden sollte.
Tiravanijas Banner am Berghain verkündet deutlich: „Morgen ist die Frage“. Was muss passieren, damit Berlin als Kunstmetropole eine Zukunft hat? Wichtig wäre eine Rückbesinnung auf das, was die Stadt ausmacht: auf ihren Freigeist. Wenn im berühmtesten Technoklub der Stadt die Kunstszene in der Krise zusammenrückt, wenn sich Galerien zu innovativen Diskursformaten zusammentun, wenn Kunst an ungewöhnlichen Orten stattfindet und die Szene die Themen Diversität und Inklusion für sich entdeckt, dann zeigt sich: Berlin ist noch lange nicht vorbei. Die Kunstmetropole ist nur wieder einmal dabei, sich weiterzuentwickeln.
- Daniel Völzke: „Ausstellung im Berghain - was Corona uns genommen hat“, in: www.monopol- magazin.de, 08.09.2020.
- Kolja Reichert: „Warum kollabiert die Kunsthauptstadt?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.05.2020.
- Conny Becker, Christina Landbrecht, Friederike Schäfer: „Endstation Berlin? Ein Rückblick auf die Berliner Kunstszenen seit 1989“, in: dies. (Hrsg.): Metropolitan Views: Berlin Berlin. Kunstszenen 1989-2009, Berlin 2010, S. 7-13, hier S. 7.
- Christoph Kluge: „Mieten in Neukölln in zehn Jahren um 146 Prozent gestiegen“, in: www. tagesspiegel.de, 07.05.2019.
- 2010 ging der Berufsverband Bildender Künstler von etwa 5.000 Künstlerinnen in Berlin aus. Zurzeit leben etwa 8.000 professionelle bildende Künstlerinnen in Berlin, schätzt eine Studie. Vgl. Hergen Wöbken: „Mind the Gap!”, in: ders. (Hrsg.): Studio Berlin III - Situation Berliner Künstlerinnen und Gender Gap, Institut für Strategieentwicklung (IFSE), Mai 2018, S. 2-4, hier S. 3.
- Hans Strömsdörfer: „Stadt der Verweigerer“, in: www.tages-spiegel.de, 21.07.2006.
- Kito Nedo: „Pionierzeit: Die Anfänge des neuen Berliner Kunstmarkts in den Neunzigern“, in: https://www.gallery-weekend-berlin.de/journal/nedo-90er/ (Zugriff: 02.10.2020)
- Etwa Julian Charriere, Felix Kiessling oder Fabian Knecht.
- Zu den Gründungsgalerien der abc - art berlin contemporary gehören Galerie Guido W. Baudach, Mehdi Chouakri, Galerie Kamm, Meyer Riegger, Galerie Neu, neugerriemschneider, Esther Schipper und Zak Branicka.
- https://hausderstatistik.org (Zugriff: 04.10.2020)
- Auf https://goodtotalk.de sind die Gespräche archiviert.
Foto: Simon Vogel
Foto: Simon Vogel
JON RAFMAN, Betamale Trilogy (Glass cabin). 2015
Mixed-Media-Videoinstallation
Foto: Simon Vogel
Foto: Stefan Korte
Foto: Clemens Porikys
Foto: Clemens Porikys
Photo: Clemens Porikys
Foto: Marco Funke, 2019
Installation im Kesselhaus des KINDL – Zentrum für Zeitgenössische Kunst, Berlin. 14. September 2014 - 28. Juni 2015
Foto: Jens Ziehe, Berlin, 2014
Installationsansicht Kesselhaus, KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin
Foto: Jens Ziehe, 2020
Foto: Uwe Walter
Foto: Uwe Walter
Ehemalige Jüdische Mädchenschule, Auguststraße 11–13
Foto: Uwe Walter
OLIVER CROY mit OLIVER ELSER. Sondermodelle. Die 387 Häuser des Peter Fritz, Versicherungsbeamter aus Wien. 2000
Installationsansicht
Foto: Uwe Walter
BERLINDE DE BRUYCKERE. lichaam (corpse). 2006
Installationsansicht
Foto: Uwe Walter
Foto: Frank Sperling
LUCY SKAER. Hintergrund: Untitled, 2010
Vordergrund: One Remove, 2016. neun Objekte als Teil von Rachel, Peter, Caitlin, John. 2010. Installationsansicht. KW Institute for Contemporary Art, Berlin
Foto: Frank Sperling
Courtesy der Künstler
Foto: Frank Sperling
Standbild aus Super-8-Film Installationsansicht in der Ausstellung „David Wojnarowicz Photography & Film 1978–1992“ KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2019
Courtesy Electronic Arts Intermix (EAI), New York
Foto: Frank Sperling
Pappe, Glas, Metall, Bier
Foto: Josephine Walter
Installationsansicht KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2010
Foto: Uwe Walter, 2010
Courtesy Hauser & Wirth
Foto: Uwe Walter
Installationsansicht KW Institute for Contemporary Art, Berlin, 2015
Courtesy Kate Cooper
Foto: Theo Cook
DAVID CHIPPERFIELD. Sticks and Stones. Installation in der Neuen Nationalgalerie, Berlin, 2014
Foto: Fabian Knecht
Foto: Institut für Raumexperimente, UdK Berlin
Foto: Institut für Raumexperimente, UdK Berlin
© Galerie EIGEN + ART Berlin
Foto: Justyna Fedec
Foto: Conrad Bauer
Foto: Justyna Fedec
IGHIYA. Rhythmanalysis. 2017
Installation
© Raisa Galofre
Foto: Andreas Süß
YOUNG BOY YOUNG BOY DANCING GROUP. Performance. 2019
Foto: Ink Agop
Foto: EIke Walkenhorst