DER OSTEN IM WESTEN. Neue Blicke auf die Kunstproduktion in der DDR

Christoph Tannert*

Magazine issue: 
#1 2021 (70), Sonderausgabe "Deutschland - Russland. Perspektiven auf die Kunst- und Museumsszene"

* Christoph Tannert (*1955 in Leipzig) ist Künstlerischer Geschäftsführer des Künstlerhauses Bethanien in Berlin und Kurator vieldiskutierter Ausstellungen zur Kunst aus Ostdeutschland.

Auch dreißig Jahre nach Ende der DDR sind Ost und West nicht auf Augenhöhe angekommen. Das gilt für die ökonomischen Lebensverhältnisse, aber auch für die ostdeutsche Kunstproduktion: Während „die DDR-Kunst“ lange pauschal auf Staatskünstler hier und tapfere Dissidenten dort reduziert wurde, werfen jüngste Ausstellungen und Museumspräsentationen einen neuen, differenzierten Blick auf die ostdeutsche Kunst. Höchste Zeit, findet Christoph Tannert - und plädiert für gegenseitige Anerkennung und eine Umwertung des Kanons.

Um den Osten zu verstehen, kann es nützlich sein, auf die Künste zu schauen - auf Bilder ohne Antworten auf die friedliche Revolution, abseits von Montagsdemonstrationen und Stasi-Strategien, weit weg von Bärbel Bohley, Gregor Gysi, Wolfgang Schnur und Egon Krenz. Die Wiedervereinigung ist ein Prozess, der noch immer läuft. Keine der Demütigungen[1] ist vergessen. Nichts wurde vergeben. Wenn in Medien und Politik über die Kunst in Ostdeutschland geschrieben wird, muss diese meist herhalten, um Dogmen zu erklären, die mit ihr nichts zu tun haben. Noch immer zwingt der Westen dem Osten seine Diskurse auf. Das belegen Geschichtsschreibung und Programmplanungen der Museen, Ausnahmen bestätigen die Regel.

„30 Jahre nach der Einheit ist Deutschland noch immer geteilt“, bilanzierte Alfred Weinzierl jüngst in der Wochenzeitung Der Spiegel. Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung belege, dass viele Ostdeutsche sich bis heute als Bürger zweiter Klasse fühlen.[2] Wie kann das sein? Liegt es an der Ambivalenz der Nachwendezeit? Manche Menschen haben sich damals eingemauert, ihre Vorwurfshaltung konserviert, andere sind ins Offene ausgezogen. Die meisten ließen keinen Zweifel daran, dass die DDR ein Unterdrückungsstaat war. Und dennoch finden sie nicht alles gut heute. Viele brauchten mit ihren Familien gut 25 Jahre, bis sie einigermaßen stabil wirtschaften konnten.

Nach wie vor widersprechen sich die Meinungen, welcher Platz heute der Kunst aus DDR-Zeiten in den Museen zukommt. In Diskussionen, gerade auch im deutschen Feuilleton, herrscht eine erbärmliche Oberflächlichkeit und ein enormes Informationsdefizit. Besonders wagemutige Wissenschaftler*innen sehen sogar ein „ehrliches Interesse am Sozialismus“ keimen.[3] Unverständlicherweise benebelt der negative Geist des Kalten Krieges den Blick immer noch. Dabei geht es um die Wahrnehmung von Diversität. Pluralismus sollte befördert, die Dominanz des Kunstmarktes mit den Galerie-Großverdienern an der Spitze zumindest im Museumsbereich zurückgedrängt werden. Gelingt das nicht, hätte der DDR-Zentralismus moralisch und ideologisch gesiegt.

Die größte Beleidigung für Künstlerinnen aus dem Osten besteht darin, als nicht museumswürdig angesehen und praktisch disqualifiziert zu werden. Besonders die ältere Generation bekommt die Auswirkungen der Ignoranz zu spüren. Durch diese Ausgrenzung wird ein Teil der ostdeutschen Kunstgeschichte[4] ins Vergessen gestoßen. Es fehlt an Diversifizierung in den Museen. Angesichts der „Vergötzung des Juvenilen“ (Carl Einstein) könnte man fast von Alten-Feindlichkeit sprechen. Hinsichtlich der Auswahlkriterien ist das Kunstsystem extrem anfällig für Diskriminierungen. Denn durch die geringe Repräsentation bestimmter Gesellschaftsgruppen in Ausstellungen entsteht oft gar nicht erst ein Interesse an deren Lebensentwürfen, Themen, Herkunft, Stil oder medialem Ansatz. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen: Der Glaubwürdigkeitsverlust jener Museen, die sich den Mainstream-Diskursen unterordnen, nimmt zu. Es sei denn, wir alle lösen uns von der ohnehin überkommenen Vorstellung, dass nur Ostdeutsche für Ostdeutsche eintreten, für Gleichberechtigung kämpfen können oder müssen.

Schauen wir kurz zurück. Das Dresdner Albertinum stellte sich mit der Sammlungspräsentation Ostdeutsche Malerei und Skulptur 1949-1990 (2018/19) in Zeitlupe der Diskussion. Das mochte im Zeitalter der Zeittaktverkürzung ungewöhnlich wirken. Schildkrötige Langsamkeit ist für die Persistenz des Kanonisierten freilich nicht von Nachteil. Das Museum der bildenden Künste Leipzig zündete unter der Leitung von Alfred Weidinger (2017 bis 2020) ein Feuerwerk an Ideen. Eröffnungen neuer Ausstellungen folgten Schlag auf Schlag. Es begann mit Sighard Gille (*1941) und seiner Figuren-Installation aus der Wendezeit, die man dem Meister der farbsüffigen Brigadebilder und des Gewandhaus-Himmels gar nicht zugetraut hätte.[5] Darauf folgte 2018 eine große Retrospektive von Arno Rink (1940-2017) mit 65 Gemälden, zahlreichen großformatigen Zeichnungen sowie ungesehenen biografischen Fotografien und Dokumenten - ein wesentlicher Schritt zum Verständnis der Traditionslinien dessen, was als „Neue Leipziger Schule“ bezeichnet wird. Parallel dazu waren die bisher als Geheimtipp gehandelten Künstlerporträts der Fotografin Karin Wieckhorst (*1942) zu sehen. Sie entstanden bei Atelierbesuchen in Dresden, Leipzig, Ost-Berlin sowie außerhalb der Zentren in den 1980er-Jahren, zum Teil punkig aufgeladen durch Übermalungen der Porträtierten.

Alfred Weidinger hatte es sich auch zur Aufgabe gemacht, das Werk des Außenseiters Klaus Häh- ner-Springmühl (1950-2006) mit einer Ausstellung (2018/19) und der Katalogisierung seines Nachlasses zu promoten. Damit wurde ein Künstler des staatsabge- wandten Spektrums mit einer neue Aufmerksamkeitsakzente setzenden Museumsausstellung gewürdigt, was heutzutage selten vorkommt. Einen Anstoß dazu hatte unübersehbar die Ausstellung Geniale Dilletanten. Subkultur der 1980er-Jahre in West- und Ostdeutschland (sic!, falsche Schreibweise beabsichtigt) im Dresdner Albertinum gegeben, an der Hähner-Springmühl beteiligt war.[6] Leipzig glänzte außerdem 2018 mit einer Schau des abstrakten Sensualisten Gil Schlesinger (*1931 in Leipzig). Museumsdirektor Weidinger hatte blitzschnell auf die Fehlstellen in der Programmatik seines Vorgängers reagiert und eine Kurswende eingeleitet, auch mit sensationellen Nachlassübernahmen, die dem ostdeutschen Bilderstreit schon jetzt neue Nahrung bietet.

Es wird offenbar, dass die Deutungshoheit über die DDR-Vergangenheit von mehreren Seiten angefochten wird. Die Korrekturen laufen zugleich in diametral entgegengesetzter Richtung. Erforscht und neu bewertet werden DDR-Positionen aus dem staatstragenden und dem nicht-staatstragenden Bereich. Alle Museen, die aktuell mit Präsentationen des Typs „Augenfutter Made in GDR“ aufwarten, fahren zweigleisig. Das führt zum Abbau der Fronten, was nicht das Allerschlechteste ist. Das Potsdamer Museum Barberini unternahm 2017/18 im Rahmen von Hinter der Maske. Künstler in der DDR in einem eigenen Raum eine Re-Inthronisierung der Auftragswerke aus dem Ostberliner Palast der Republik. Das war allerdings das falsche Signal. Zurecht hatte man nach 1989 das sozialistische Designprogramm als staatliche Auf- hübschungsmaßnahme erkannt und eine Einlagerung in der Kategorie „historische Zeugnisse“ vorgenommen. Nun sind die harmlos-kitschigen Palast-Ausmalungen also wieder Kunst. Wie soll man das bewerten? Ist das jetzt Modernisierung oder Historismus?

Wenn man Revue passieren lässt, wie kleinere und größere Museen im Osten unseres Landes sich um Spezifisches mit DDR-Hintergrund trotz widriger Umstände verdient gemacht haben, dann ist das bewunderungswürdig. Die Kunsthalle Rostock überraschte bereits 2015 mit einer fulminanten Arno Rink-Schau, das dkw Cottbus feierte 2016 die „Clara Mosch“-Gruppe, im Museum Junge Kunst in Frankfurt/Oder wurde 2017 Malstrom[2] zelebriert, mit den aus der DDR emigrierten Dresdner Künstlerinnen Reinhard Stangl, Ralf Kerbach, Cornelia Schleime, Helge Leiberg und Hans Scheib. Im Packhof in Frankfurt/Oder gelang Doris Ziegler 2018 eine Werkschau, die unglaublich emanzipatorisch wirkte, weil sie in der Reflexion, wo der Mensch heute steht, einfach wahr war. Durchbrechend wie ein Trompetensignal setzen Cottbus und Frankfurt unter der Leitung von Ulrike Kremeier ihre Linie gegen die Autorität der simplen Geister im Lande bis in die Gegenwart fort. Wohltuend in einer Welt in Bedenkenlosigkeit wirken auch die klaren Traditionslinien in der Neupräsentation der Sammlung mit Kunst nach 1945 im Kunstmuseum Moritzburg Halle/ Saale. Mit der bewusstseinserweiternden Konzeption ins offene. fotokunst im osten deutschlands seit 1990 (2018) unterstrichen die Kuratoren T.O. Immisch, Gabriele Muschter und Uwe Warnke noch einmal das ostdeutsche Kulturerwachen. „Die Freiheit wird nicht kommen, Freiheit wird sich rausgenommen“, heißt es beim Ostberliner Anarcho-Dichter Bert Papenfuß.[7] Langsam demonstriert und strampelt sich der Osten frei.

Das starke Interesse auch junger internationaler Künstlerinnen an DDR-Erinnerungsarbeit bewies sich 2018 ausdrucksstark in der Leipziger Halle 14 im Requiem for a failed state. Zu erleben war eine Menta litätsforschung der avancierten Art mit einem gesteigerten Interesse an Geschichte, um Gegenwart besser zu verstehen.[8] Wie endlos das Potential ist, stellte das Staatliche Museum Schwerin 2018 mit Hinter dem Horizont (kuratiert von Kornelia Röder / Deborah Bürgel) unter Beweis. Mit Medea muckt auf offerierte Susanne Altmann 2018/19 in der Kunsthalle im Lipsiusbau Dresden 35 Positionen „radikaler Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang“ - aus der DDR, Polen, der CSSR, Ungarn und Rumänien. Die Ausstellungsstücke entstammten der Zeit zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren. Ein Aufmarsch „zündelnder, provozierender, protestierender, experimentierender“[9] Ost-Frauen von damals. Das entsprach den heutigen Zeitgeist-Perspektiven, nach denen die Avantgarde feminin, am besten noch feministisch ist und ein Gegengewicht bildet zum bräsigen, national-konservativ orientierten Rollback. Medea verbreitete einen progressiv-moralischen Geist, der nichtsdestotrotz Humor zuließ. Die solide recherchierte Ausstellung lief nicht etwa den Ergebnissen der westlichen historischen Frauenforschung hinterher, sondern belegte die Unterrepräsentanz einer weiblichen Perspektive in der Kunstgeschichtsschreibung unter Hinzuziehung der Kunst von ostdeutschen und osteuropäischen Rebellinnen. Angestrebt wurde nichts weniger als eine neue Wertung und Kanon-Bildung. Das gelang. Dabei fiel auf, dass die Osteuropäerinnen mit den westlichen Avantgarden zeitgleich auf einer Stufe stehen, die Künstlerinnen in der DDR dagegen eigenen nationalen Traditionslinien verhaftet sind. Angela Hampel und Christine Schlegel etwa fühlten sich auf expressiv farbpotente Weise Penthesilea verbunden, Cornelia Schleime mit Alchemie und Jenseitsprojektionen.

Menschen suchen nach Aufmerksamkeit, nach Anerkennung, Zuwendung, Verständnis. Theaterstücke, Literatur, Kunst und Musik können dieses Sehnsuchtsareal mit Erlebnissen füllen. Mehr als im Westen und mehr als heute gaben Kunstwerke in der DDR vielen Menschen das Gefühl, nicht allein zu sein. Deshalb gibt es heute im Osten eine verstärkte Nachfrage nach Wiederbegegnung mit Bildern, die den Menschen in dunklen Zeiten Gesellschaft leisteten. Es verwundert nicht, dass der Kreis der Kunstrezipienten zwischen Ost und West in Ingroups und Outgroups auseinanderfällt. Es fehlt eine Praxis des einander Verstehens und gegenseitiger Anerkennung. Dieses Manko ist sozial hinderlich, wenn in einer Gesellschaft gemeinsame Ziele verfolgt werden sollen. Oftmals mangelt es dem Führungspersonal der Museen daran, den Umstand zu verstehen, dass wir in unseren Geschicken aufeinander angewiesen sind. Das, was Kunst ermöglicht - Weltverständnis und Weltinterpretation - kann prinzipiell nicht begrenzt sein, ihre Reichweite hängt von eben dieser Verflechtung der Publika ab. Unser Erlebnis- und Deutungshorizont, der über Kunst vermittelt wird, hängt auch von den Erlebnissen der anderen ab.

Eine Gesellschaft, die Menschen eine Heimat bieten will, braucht Ereignisse geteilter Lebenserfahrung. Im Osten Deutschlands ist eine kosmopolitische Ethik nicht ohne die Anerkennung spezifischen DDR-Erlebens denkbar. Wenn darüber nicht anhaltend museumsintern gestritten wird, verkommt die gedächtnisbildende Institution Museum zu einem identitätslosen Allerweltsschaulager. Mit Hilfe von Jubiläumsbudgets für Veranstaltungen zu „30 Jahre Mauerfall“ wurden 2019/20 im Osten Deutschlands vergleichsweise viele Projekte realisiert, die mittels Kunst Auskunft gaben über Lebensund Alltagsthemen, Heimat- und Wertvorstellungen.

Aber wer aus dem Westen hat sich diese Ausstellungen angesehen? Dabei sollte bei diesem sensiblen Thema gelten: Ausstellungen macht man nur dann, wenn man dem Kanon eine neue Richtung zu geben in der Lage ist. Sonst kann man es gleich lassen. Doch die weißen Flecken in der Kunstgeschichte der DDR zwischen 1949 und 1989 nehmen nur langsam ab. Die Namen und Ereignisse sind überschaubar, die Fangemeinde ist riesig und schaut genau hin. So wie auch bei zwei Ausstellungen, die 2019 herausstachen aus dem bundesdeutschen Veranstaltungskalender: Zum einen Von Ferne. Bilder zur DDR (Museum Villa Stuck, München, kuratiert von Sabine Schmid) und Utopie und Untergang. Kunst in der DDR (Kunstpalast Düsseldorf 2019/20, kuratiert von Steffen Krautzig). Sabine Schmid hält bis heute den Goldstandard in Sachen Neuinterpretation und Neuzugänglichmachung. Sie hat bewiesen, wie es möglich ist, das intellektuelle Gleichgewicht auch unter den Bedingungen politischer Verschiebungen zu halten.

Man kann die problematischen Kapitel der DDR-Kunstgeschichte auch brav wegretuschieren, dann öffnet sich ein bis ins letzte Klischee durchkomponierter Fächer der Geschichtsklitterung. Steffen Krautzig verschaffte allen, die es nicht verdienen[10], einen spektakulären Auftritt und hängte einige Einzelgänger*innen an[11]. Bei ihm konnte man sehen, wie eine durch und durch verkehrte Welt aussieht. Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR erfreuen sich die Korsettstangen des DDR-Sys- tems scheinbar besonderer Beliebtheit. Möglicherweise rührt das daher, dass jene Künstlerinnen, die bereits in den 1970er-Jahren mit dem Segen der DDR-Mächtigen im Westen promotet wurden, dort bis heute eine Fangemeinde haben. Die Kenntnis über die nichtangepasste und junge Szene der DDR ist dagegen gering.

Ein Beispiel für eine gelungene Konzeption zeigt Elke Pretzel in der kleinen, aber feinen Kunstsammlung Neubrandenburg: Ihre seit 2007 zugängliche Neuhängung mit dem vielversprechenden Titel „Der glückliche Griff“, in der Neuzugänge etappenweise präsentiert werden, hatte Konsequenzen für die gesamte Raumsituation und zog scharenweise Besucher ins Museum. 90 Prozent Werke regionaler Künstlerinnen wurden gemischt mit 10 Prozent Ankäufen westdeutscher Kunst. Zu sehen sind momentan hervorragende Werke von Strawalde, Matthias Jaeger, Hans Jüchser und Theodor Rosenhauer, die unterstreichen, dass es auch unter dem Dirigat der Kulturfunktionäre durchaus möglich war, traditionsverbunden und doch eigenwillig und mit Blickkontakt zum internationalen Kunstgeschehen zeitgenössisch zu arbeiten.

Seit Jahren zeigen Jutta und Manfred Heinrich in ihrem Sammlermuseum in Maulbronn, wie es gehen kann, Ost- und Westberliner Kunst der 1980er-Jahre in einen spannenden Dialog zu bringen. Neuhängungen in regelmäßigen Zeitabständen akzentuieren den reichen Sammlungsbestand an Malerei und Skulptur. So findet zusammen, was neue Sinneinheiten kreiert: Reinhard Stangl und Hans Scheib; Lutz Friedel, Reinhard Stangl und Barbara Quandt; Hans Hendrik Grimmling und Peter Chevalier; Walter Stöhrer und Wolfgang Petrick. Wenngleich in verschiedenen Welten bzw. nach einem Weltenwechsel entstanden, duellieren sich die Werke nicht, das Publikum sieht sie miteinander aussagestark interagieren. Manfred Heinrich fing vor 35 Jahren als häufiger Gast des Künstlertreffpunkts „Cafe Mora“ in Berlin-Kreuzberg an, den Verschlingungen der Lebenswege von Ost- und Westdeutschen zu folgen und hat mittlerweile mehr als 300 Werke des Kritischen Realismus, der „Schule der neuen Prächtigkeit“ und des Neoexpressionismus in unterschiedlichsten Spielarten miteinander wie in einem Kaleidoskop verzahnt.

Diese Aufzählung von Veranstaltungen mögen zahlenmäßig imposant wirken. Hochgerechnet auf die Anzahl der Museen und Ausstellungsinstitute und deren Programme in Deutschland aber zeigt sich, dass der dringend notwendige neue Blick auf die Kunstentwicklungen im Osten für viele Kurator*innen offenbar keine Herzensangelegenheit ist.

Was wäre zu tun? Sollte es vielleicht besser nach ästhetischer Qualität als nach Quote gehen? Die Meinungen sind geteilt. Die Aktivisten wünschen Quotierung nach Herkunft, die Traditionalisten setzen auf obskure Qualitätsmaßstäbe, wobei ihre Leitlinien zumeist an der Festschreibung des Überkommenen festhalten und nicht an der Regelbrechung. Aber institutionelle Gerechtigkeit kann nun mal nur erreicht werden, wenn sie weh tut. Während sich in der Kunst viele regionale Spezifika zeigen und Osten und Westen trotz Milliarden-Investitionen nicht auf einen Nenner gekommen sind, zeigt sich dennoch eine Gemeinsamkeit: die weitgehende Übereinstimmung auf das Leistungsprinzip. 40 Jahre DDR haben kaum etwas an der Überzeugung der Ostdeutschen verändern können, dass individueller Wohlstand aufgrund individueller Leistung zustande kommen sollte.

Lassen wir Hoffnung walten...

 

  1. Erinnert sei an die Ausstellung Offiziell und Inoffiziell - Die Kunst der DDR, inszeniert 1999 von Kurator Achim Preiß parallel zu einer Ausstellung mit Nazi-Kunst in einer Mehrzweckhalle am ehemaligen Gauforum Weimar. Oder an die Ausstellung Sechzig Jahre. Sechzig Werke. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland, veranstaltet 2009 im Berliner Martin-Gropius-Bau, deren Auswahl von einem rein westdeutschen Team (Götz Adriani, Robert Fleck, Siegfried Gohr, Peter Iden, Susanne Kleine, Ingrid Mössinger, Dieter Ronte, Frank Schmidt und Walter Smerling) getroffen wurde. Weder wurden ostdeutsche Kuirator*innen in die Diskussion einbezogen noch entsprechende Künstlerinnen (außer Neo Rauch und Eberhard Havekost) berücksichtigt. Zehn Jahre nach der Wende.
  2. Der Spiegel, 07.09.2020 Vgl. auch: „Eine Bilanz in Grafiken“ von Hanz Omar Sayami, Guido Grigat, Frank Kalinowski und Benjamin Bidder, in: Der Spiegel, 13.09.2020
  3. April Eisman / Gisela Schirmer (Hg.), Kunst in der DDR - 30 Jahre danach, Vandenhoeck & Ruprecht Verlage, Kunst und Politik, Band 022, Göttingen 2020
  4. Gemeint sind Künstlerinnen wie Horst Bartnig, Jürgen Böttcher (Strawalde), Hans Brosch, Achim Freyer, Eberhard Göschel, Wasja Götze, Dieter Goltzsche, Peter Graf, Willy Günther, Peter Herrmann, Veit Hofmann, Christa-Maria Jeitner, Wolfgang Leber, Gerda Lepke, Harald Metzkes, Stefan Plen- kers, Gil Schlesinger, Hans-Otto Schmidt, Dagmar Ranft-Schinke, Erika Stürmer-Alex, Max Uhlig. Nur, um einmal in Sachen Malerei und Plastik kurz in alle Himmelsrichtungen zu schauen. Man könnte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die Reihe fortsetzen.
  5. Bereits 2016/17 wurde Sighard Gille mit einer großen Retrospektive, damals noch unter Direktor Hans-Werner Schmidt, im Museum der bildenden Künste Leipzig geehrt.
  6. Die 2017 von Mathilde Weh kuratierte Ausstellung wurde speziell für Dresden ergänzt mit folgenden ostdeutschen Einzelkünstler*innen und Gruppen der Subszene: R. Penck und Gruppe Lücke frequentor, Helge Leiberg, Michael Freudenberg, Klaus Hähner-Springmühl, Cornelia Schleime, Ralf Kerbach, Christine Schlegel, die Dresdner Autoperforationsartisten, Matthias BAADER Holst, Moritz Götze, Tohm di Roes, AG Geige, Ornament und Verbrechen, Zwitschermaschine, 37,2, Pfff..., Rennbahnband, Kartoffelschälmaschine, Die letzten Recken, Die Gehirne, Die Strafe.
  7. https://www.lyrikline.org/de/ge-dichte/es-gibt-keine-freiheit-7066
  8. Die Ausstellung folgte, laut Infoblatt zur Ausstellung, insbesondere der Frage: „Wie schauen die ab 1980 Geborenen auf das Ende der DDR, die Wendeereignisse und die Dekade der Orientierungslosigkeit der 1990er zurück, an die sie keine oder nur wenig individuelle Erinnerungen haben?“
  9. Pressetext zur Ausstellung.
  10. Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Willi Sitte.
  11. Gerhard Altenbourg, Carlfriedrich Claus, Michael Morgner, A. R. Penck, Cornelia Schleime, Angela Hampel, Elisabeth Voigt.
Abbildungen
REINHARD STANGL. Der Fremde. Gruppenbild. 1978
REINHARD STANGL. Der Fremde. Gruppenbild. 1978
Öl auf Holz. 165 × 125 cm
Courtesy des Künstlers
HANS SCHEIB. Animateur – Auch ein Künstlerleben – Arschloch. 1986
HANS SCHEIB. Animateur – Auch ein Künstlerleben – Arschloch. 1986
Holz, Farbe. 162 × 106 × 80 cm
Courtesy Sammlung Jutta und Manfred Heinrich, Maulbronn
TINA BARA. Selbstporträt. 1983
TINA BARA. Selbstporträt. 1983
Schwarz-Weiß-Fotografie
Courtesy des Künstlers
ERASMUS SCHRÖTER. Mann 10. 2008
ERASMUS SCHRÖTER. Mann 10. 2008
Fotografie
Courtesy des Künstlers
HANS-HENDRIK GRIMMLING. Die Umerziehung der Vögel. 1977. 4-teilig
HANS-HENDRIK GRIMMLING. Die Umerziehung der Vögel. 1977. 4-teilig
Öl auf Hartfaser, gesamt 203 × 411 cm
Courtesy Sammlung Jutta und Manfred Heinrich, Maulbronn
THEODOR ROSENHAUER. Zwei runde Brote mit Karaffe (Zwei Brote mit Kratunka). Um 1980
THEODOR ROSENHAUER. Zwei runde Brote mit Karaffe (Zwei Brote mit Kratunka). Um 1980
Öl auf Leinwand. 50 × 65 cm
Courtesy Kunstsammlung Neubrandenburg. Foto: Bernd Kuhnert, Berlin
JÜRGEN BÖTTCHER (STRAWALDE). Anna Cron. 1993–2002
JÜRGEN BÖTTCHER (STRAWALDE). Anna Cron. 1993–2002
Öl, Assemblage auf Leinwand. 150 × 100 cm
Courtesy Ostdeutsche Sparkassenstiftung gemeinsam mit der Sparkasse Neubrandenburg-Demmin. Foto: Bernd Kuhnert, Berlin
KARIN WIECKHORST. Aus der Serie „Begegnungen in Ateliers“ 1986–1987
KARIN WIECKHORST. Aus der Serie „Begegnungen in Ateliers“ 1986–1987:
Hartwig Ebersbach. 1986–1987
Schwarzweißfotografie (links oben). 40 × 40 cm
Schwarzweißfotografie, übermalt (rechts oben). 40 × 40 cm
Schwarzweißfotografie (unten). 80 × 80 cm
gesamt 139 × 91 cm
Courtesy des Künstlers
HANS JÜCHSER. Großes Stillleben mit Flasche, Fruchtschale und Zitrone. 1968
HANS JÜCHSER. Großes Stillleben mit Flasche, Fruchtschale und Zitrone. 1968
Öl auf Hartfaser. 59,5 × 80 cm
Courtesy Kunstsammlung Neubrandenburg. Foto: Bernd Kuhnert, Berlin
MATTHIAS JAEGER. Weg in Puchow. 1982
MATTHIAS JAEGER. Weg in Puchow. 1982
Öl auf Hartfaser. 73 × 90 cm
Courtesy Kunstsammlung Neubrandenburg. Foto: Bernd Kuhnert, Berlin
CORNELIA SCHLEIME. Havanna (Mädchen mit Zöpfen im Bastrock). 1996
CORNELIA SCHLEIME. Havanna (Mädchen mit Zöpfen im Bastrock). 1996
Acryl, Schellack und Asphaltlack auf Leinwand. 160 × 200 cm
Courtesy Sammlung Jutta und Manfred Heinrich, Maulbronn
LUTZ FRIEDEL. 6.3.53 (Brandenburger Tor). 1993
LUTZ FRIEDEL. 6.3.53 (Brandenburger Tor). 1993
Öl auf Leinwand. 120 × 205 cm
Courtesy Sammlung Jutta und Manfred Heinrich, Maulbronn

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