ANTIMONUMENTE AM BEGINN DES 21. JAHRHUNDERTS: Isa Genzken und Irina Korina

Daniel Bulatov*

Magazine issue: 
#1 2021 (70), Sonderausgabe "Deutschland - Russland. Perspektiven auf die Kunst- und Museumsszene"

* Daniel Bulatov ist Kunsthistoriker, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Puschkin-Museums in Moskau und Autor der Monografie Wiedergeburt der Moderne: Deutsche Kunst 1945-1965. Künstlerische Theorie und Ausstellungspraxis (2017, in russischer Sprache).

Vergleicht man die deutsche und russische Kunstszene der vergangenen zwei Jahrzehnte, so finden sich auf den ersten Blick nicht allzu viele Gemeinsamkeiten: Auf der einen Seite ist da der deutsche Kunstmarkt - einer der führenden der Welt -, auf der anderen die zeitgenössische Kunst Russlands, die allmählich die Faszination des Neuen - ein Rudiment der Perestroika-Zeit - in der Welt verliert, ihren provinziellen Minderwertigkeitskomplex aber noch nicht überwunden hat. Umso interessanter ist es, wenn man in diesem Zusammenhang in der deutschen und russischen Kunst auf durchaus ähnliche, aber unabhängig voneinander entstandene Phänomene stößt. Eines der auffälligsten Beispiele für eine solche Parallelität ist, wie sich die künstlerischen Methoden Isa Genzkens (Jahrgang 1948) und der 1977 geborenen Irina Korina ab Mitte der 2000er- bis Anfang der 2010er-Jahre in einer Reihe von Aspekten einander angenähert haben. Aufgrund der unterschiedlichen Lebensumstände der beiden Künstlerinnen sind in ihren Arbeiten kaum gemeinsame Themen und Motive zu finden. Was sie eint, ist die Methode, nach der sie ihre Materialien wählen, zum Teil auch ihr formgestalterisches Denken - vor allem aber jene tiefgreifende Neuinterpretation, die bei ihnen die Begriffe Skulptur und Installation erfahren.

IRINA KORINA. Column. 2009
IRINA KORINA. Column. 2008
Museum Folkwang, Essen

Diese Neuinterpretation lässt sich im Kontext der allgemeinen Verbannung des Monumentalen aus der Kunst begreifen - einer internationalen Tendenz der Nullerjahre, die 2007 in der Ausstellung Unmonumental des New Museum (New York) ihren Ausdruck fand.[1] Diese versammelte „skulpturale Assemblagen“ von Künstlerinnen (darunter auch Isa Genzken als Vertreterin der älteren Generation), deren Arbeiten „informell, provisorisch, bisweilen sogar korrodiert und beschädigt [sowie] unheroisch und bewusst unmonumental“ sind. Die ausgestellten Werke sollten den Geist einer „Zeit brüchiger Symbole und gebrochener Idole“[2] widerspiegeln - eine Definition der Gegenwart, die auch auf Irina Korinas Œuvre zutrifft. In ihrem Fall ist das sowjetische Erbe (mit seiner puristisch-asketischen Formensprache) gemeint, das unter den Warenbergen einer merkantilen Kultur begraben liegt.[3]

Aus kunsthistorischer Sicht ist diese antimonumentale Tendenz auf den ersten Blick nicht neu: Seit ihrem Aufkommen in den 1910er-Jahren hat sich die Technik der Assemblage kontinuierlich weiterentwickelt und in den Sechzigern im Rahmen des US-amerikanischen Neo-Dadaismus oder des Nouveau Realisme in Europa ihren Höhepunkt erlebt. Während in den frühen Assemblagen industriell gefertigte Objekte und Materialien jedoch selten Verwendung fanden und noch seltener als eigenständig sinnstiftende Elemente eingesetzt wurden, gerieten in den Nachkriegsjahren vor allem Readymades mit ihrer mnemonisch aufgeladenen, unmittelbar im Leben wurzelnden Bedeutung in den Fokus. Die heutigen Künstlerinnen begreifen die Assemblage hingegen in der Regel nicht als Abbild der Realität unter Einbeziehung „gefundener Objekte“ (objets trouves), sondern als ein neues plastisches Ensemble, dessen Gegenstände wie indexikalische Zeichen auf die Wirklichkeit verweisen. Den Unterschied zwischen diesen Ansätzen hat Isa Genzken einmal wie folgt formuliert: „Ich bin nicht an Readymades interessiert. Die Bedeutung liegt in der Kombination der Sachen.“[4] Den zufälligen, chaotischen Bezügen zwischen gleich- oder verschiedenartigen Elementen der klassischen Assemblage (etwa bei Arman, einem Mitbegründer des Nouveau Realisme) wird hier die Verschmelzung der Objekte zu einem deskriptiven Ganzen entgegengesetzt. In dieser Hinsicht stehen die Arbeiten der zeitgenössischen „Antimonumentalisten“ also eher in der Nachfolge von Robert Rauschenbergs Combines mit ihrer in sich geschlossenen plastischen Form. Vor allem aber kommt Genzkens Ablehnung des Readymades darin zum Ausdruck, dass sie zwar ebenfalls fabrikneue - mithin geschichtslose, ihrer individuellen Aura beraubte – Indus trieprodukte und Bau- und Verpackungsmaterialien verwendet, diese jedoch so manipuliert und transformiert, als handele es sich um ein homogenes plastisches Material.

Welcher Art ist das Antimonumentale bei Isa Genzken und Irina Korina? Auf den ersten Blick scheinen die Antimonumente dieser so unterschiedlichen Generationen und künstlerischen Milieus entstammenden Bildhauerinnen unter völlig verschiedenen Voraussetzungen entstanden zu sein. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Betrachten wir zunächst, worin das jeweils „Monumentale“ - jener Gegenpol, von dem sie sich absetzen - für sie besteht. Bei Genzken, deren künstlerische Laufbahn im Westdeutschland der 1970er-Jahre beginnt, ist es der Minimalismus mit seiner Fixierung auf die autonome, meist monolithische Form und dem programmatischen Verzicht auf die emotionale Wirkung des Kunstwerks.[5] Für Korina dagegen, die im Jahr 2000 ihr Studium der Szenografie an der Russischen Akademie für Theaterkunst (GITIS) abschließt, wird das „Monumentale“ durch die offizielle staatliche Kunstpolitik verkörpert, die sich bei aller Unterstützung für manch zeitgenössische Kunstinitiative in den 1990er-Jahren seit der Sowjetzeit kaum verändert hat: Nach wie vor hält diese Politik an archaischen Künstler*innenverbänden und veralteten Bildungsmethoden fest und denkt in den Kategorien pompöser bronzener Denkmäler.[6]

Das „Monumentale“ ist damit aber noch nicht erschöpfend beschrieben. Die Jahre der Perestroika, der Mauerfall und das Ende der Sowjetunion bilden einen gemeinsamen Hintergrund für die Entwicklung der Kunst in Deutschland und Russland: In allen Ländern des ehemaligen sozialistischen Lagers - einschließlich der DDR - gehörte das Leben im totalitären Regime auf einmal der Vergangenheit an, wodurch Zonen kollektiver Traumata entstanden. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass die westdeutsche Gesellschaft einige Jahrzehnte zuvor eine ähnliche posttotalitäre Erfahrung durchgemacht hatte. In dieser Zeit setzten sich deutsche Künstler*innen unablässig mit dem Thema der Kollektivschuld und dem Erbe des Nationalsozialismus auseinander - in den 1960er-Jahren etwa Georg Baselitz und Gerhard Richter (Genzkens Ehemann von 1982 bis 1993). In den Achtzigern dagegen sehen wir sowohl in der deutschen als auch in der russischen Kunst immer häufiger das Motiv des ruhmlosen Untergangs der Imperien und ihrer Mythologien - eines der zentralen Themen von Anselm Kiefer und Grisha Bruskin, die zwar derselben Generation angehören (und seinerzeit für die deutsche bzw. russische Kunstszene gleichermaßen bedeutend waren), sich aber stark voneinander unterscheiden. Den historischen Blick, das röntgenartige Durchleuchten der zeitgenössischen Wirklichkeit, hinter der unweigerlich die Gespenster der Vergangenheit lauern, teilten 1993 die russischen und deutschen Beiträge zur Biennale von Venedig: Damals fand Ilya Kabakovs totale Installation Roter Pavillon ihr Echo in Hans Haackes nicht minder „totalem“ Germania. Während Kabakov den damals gerade in Renovierung befindlichen russischen Pavillon mit einem Holzzaun umgab und im Innenhof der Baustelle (sinnbildlich für das schier endlose Bauprojekt des kommunistischen Weltgebäudes) eine Art Zikkurat errichtete, die entfernt an den zentralen Pavillon der Moskauer Leistungsschau WDNCh erinnerte, grub Haacke den Boden des deutschen Pavillons auf, um im Wortsinne dessen Abgründe - die Marmorplatten aus nationalsozialistischer Zeit - offenzulegen.[7] In beiden Fällen präsentierten die Künstler dem Publikum Mausoleen toter Utopien und gescheiterter Ambitionen. Für diesen Beitrag sind beide Projekte von Interesse, weil sie auf die konzeptuelle Dekonstruktion propagandistisch missbrauchter Architektur abzielen und in diesem Sinne einerseits antimonumental, anderseits aber auch durch und durch monumental sind - nicht nur aufgrund ihrer konkreten Ausmaße, sondern auch aufgrund der „Totalität“ der ihnen innewohnenden Semantik, die keine allzu freien Interpretationen zulässt. Es ist schwierig bis unmöglich, Kabakovs roten Sperrholz-Pavillon nicht als Parodie des Stalin-Empire zu lesen oder den unter den Füßen des Publikums zerbröckelnden Fußboden in Haackes Germania nicht als direkte Antithese der nationalistischen Blut-und-Boden-Ideologie zu deuten.[8]

Der gemeinsame Ursprung der „Antimonumentalität“ Genzkens und Korinas liegt somit in ihrer Ablehnung des expliziten Narrativs der Konzeptkunst (mit ihren anerkannten Großmeistern Haacke und Kabakov) und ganz allgemein in der Ablehnung des für viele Künstlerinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts typischen - und in mancher Hinsicht auf den globalen Konflikt der Supermächte zurückgehenden - Denkens in antagonistischen Kategorien, das weder nuancierte Abstufungen noch irgendeine Form von Relativismus kennt. Spätestens mit Anbruch der 2000er-Jahre, die einerseits vom Siegeszug der Globalisierung und der liberalen Marktwirtschaft, andererseits vom Aufkommen bis dato unerkannter Gefahren (vor allem des internationalen Terrorismus) geprägt waren, musste ein solcher Ansatz als völlig veraltet gelten.

Isa Genzkens künstlerischer Werdegang kann als konsequente Abwendung von der hermetisch-modernistischen Bildhauerei, vom isolierten Objekt im Raum hin zur Zusammenstellung unterschiedlicher Materialien, räumlicher Strukturen und fotografischer Abbildungen verstanden werden. Begann sie in den 1970er-Jahren noch mit Skulpturen im Geiste des Minimalismus (etwa die mathematisch präzisen, mit Hilfe von Computeralgorithmen aus Holz gedrehten „Ellipsoide“ und „Hyperbolos“)[9], so sind ihre Arbeiten aus den Achtzigern das exakte Gegenteil davon: Mit Hilfe des Materials Stahlbeton widmet sich Genzken nun einer Ästhetik der Ruinen, des Fragmentarischen und Unvollkommenen. Dem Technizismus der Minimal Art setzt sie einen bewusst groben Werkstoff entgegen; die skulpturale „Aneignung“ des Raums weicht dem Antimonumentalismus kleiner Betonradios, aus Beton gegossener Fensterrahmen und Konstruktionen, die an unverkleidete Plattenbauten denken lassen und die die Künstlerin auf hohen Podesten platziert, als handelte es sich dabei um Büsten. Mit ihrer an Mauern und Absperrungen erinnernden Ästhetik mögen diese Arbeiten durchaus den bereits erwähnten Untergang der Imperien andeuten, doch ist dies nicht die einzig mögliche Lesart: Diese Betongebilde lassen sich nämlich auch als Schutzhüllen auffassen oder als zerbrechliche, vergängliche Erinnerungsräume.

In den Nullerjahren wendet sich Genzken von den für die Kunst der Moderne typischen Materialien (Holz, Gips und vor allem Beton) ab und beginnt Kunststoff, synthetische Gewebe und Alltagsgegenstände wie Stühle, Kleidung, Spielzeug sowie wertlosen Tand für ihre Arbeiten zu verwenden. Dahinter verbirgt sich jedoch keine Absage an die Skulptur als solche, sondern vielmehr deren Transformation hin zu einem offenen, egalitären System, dessen versprengte Bestandteile sich nicht nur nicht mehr einander zuordnen lassen, sondern sich jeglichem Aufbau hierarchischer Bezüge widersetzen. Nach Benjamin H. D. Buchloh wird in Genzkens Werk „das, Ich‘ der totalitären Ordnung der Objekte unterworfen“, was „den Bildhauer buchstäblich an den Rand der Psychose bringt“.[10] Bei Genzken ist die „Psychose“ aber nicht nur die des Künstlers, nicht nur dessen Hilflosigkeit nach dem tollkühnen Sprung in den grenzenlosen Ozean betörend anzusehender Dinge (wie etwa künstliches Laub, knallbuntes Sportinventar, dekorative Figürchen oder elegante Blumenvasen mit gläsernen Stein- chen am Grund). Vielmehr ist die Massenpsychose der modernen Konsumgesellschaft das Thema ihrer Arbeiten aus den 2000er-Jahren, in denen sich Gegenstände übereinander häufen und in einen dysfunktionalen, nicht qualitativen, nicht semantischen, sondern ausschließlich retinalen Wettbewerb treten, einfacher gesagt: einen Wettbewerb des Schönen gegen das Schöne. Das ist Kitsch, aber eben kein monumentaler Kitsch wie etwa bei Jeff Koons, bei dem alles auf der Fetischisierung des Einzelbildes aufbaut, welches mehrfach - mitunter bis ins Monströse - repliziert wird.[11] Nicht zufällig ist in den Nullerjahren eine von Genzkens häufigsten plastischen Formen der Strauß - sei es aus Kunstblumen oder unterschiedlichsten anderen Materialien (Urlaub, 2004; Elefant, 2006).

Der Widerstand aus dem realen Leben gegriffener Materialien gegen allzu leicht verdauliche Organisationsformen oder mühelos lesbare Konzepte - das ist es, was Irina Korinas Installationen und Isa Genzkens Antimonumente eint. Ihre größte Nähe erreichen die Plastiken beider Künstlerinnen in den Jahren 2008/09, als Korina drei säulenartige Installationen mit den Titeln Column, Night Charge und Fountain errichtet, Letztere für den russischen Pavillon der 53. Biennale von Venedig. Die wichtigsten Materialien dieser Arbeiten sind farbenfrohe Wachstücher sowie zerschnittene Transporttaschen fahrender Kleinhändler (tschelnoki), typische Attribute der 1990er-Jahre sowie symbolische Säulen der russischen Marktwirtschaft. Hat dieses Material in Column noch eine geordnete - wenn auch bizarr geformte - Struktur, die an jene bauchigen Kubyschka-Säulen aus der russischen Architektur des 17. Jahrhunderts erinnert, so verdrillen sich die Wachstuch-Tentakeln von Night Charge zu darmähnlichen Strängen oder schäumen in Fountain (einem ebenfalls bis zur Decke reichenden, säulenartigen Konstrukt) empor wie in einem Springbrunnen. Korinas Spiel mit der Säulenform konterkariert dabei nicht nur das Konzept der Stützkonstruktion, sondern entlarvt auch gleich die architektonischen Ansprüche ihrer Zeit: So erinnert die Basis von Column an eine für diese Zeit typische aufklappbare „Muschelgarage“, während das Kapitell in Form eines kunststoffverkleideten Häuschens mit Klimaanlage gestaltet ist.

Die Säulenform findet sich - ebenso wie architektonische Anspielungen - auch in vielen Arbeiten Isa Genzkens. Bereits in den 1990er-Jahren beginnt sie einen Zyklus aus quadratischen Säulen, deren Oberfläche sie mit bunten, glänzenden Materialien wie Spiegelfliesen, Hologrammfolie und buntem Industrieband beklebt. Die im Jahr 2000 entstandene Assemblage-Serie Fuck the Bauhaus zeigt Gebäudemodelle, die aus diversen, willkürlich gesammelten Materialien (darunter Pizzakartons, Klebeband, Muscheln und Büroutensilien) bestehen, gleichsam eine Antithese zur funktionalen, reinen Linie des Bauhaus. 2008 provoziert Genzken das Publikum mit eigenen Vorschlägen für den Wiederaufbau am Ort des zerstörten World Trade Center. So umfasste ihr „architektonisches Ensemble“ Ground Zero die Teile Memorial Tower, Hospital, Car Park, Osama Fashion Store, Church, Light sowie eine Diskothek namens Disco Soon. In dem niedrigen Ausstellungsraum der Londoner Piccadilly Gallery, wo diese Werkreihe erstmals gezeigt wurde, erinnerten die parodierten Wolkenkratzer tatsächlich an Säulen - insbesondere das auf einem Krankenhauswagen ruhende und von einem geschmacklosen Blumenstraußkapitell gekrönte Hospital. Genzken hinterfragt auf diese Weise den utopischen Gehalt sowohl der Vorkriegsmoderne als auch der zeitgenössischen Konsumkultur. Die Lebensenergie, die dieser ikonoklastischen Geste innewohnt, macht es jedoch unmöglich, ihr einen gewissen Optimismus abzusprechen.

Dieser Gedanke gilt nicht minder für Irina Korinas Installationen, in denen die Phantome der Vergangenheit als Theaterrequisiten wieder aufleben. Die „Wiederholung der Geschichte als Farce“ (Karl Marx) findet sich bereits in einer so frühen Arbeit wie Back into the Future (2004), in der sowjetische Kosmonauten den Betrachter von einem Schaumstoffmosaik herab grüßen, oder in When the trees were big (2010), einer Installation aus gigantischen Baumstümpfen, ausgemusterten sowjetischen Eisengebilden mit optimistischer Symbolik (beispielsweise einer auffliegenden Schwalbe) und Plastikbehältern mit „telekinetisch aufgeladenem“ Wasser. Doch nicht nur die Vergangenheit wird in Korinas Werken karnevalisiert, auch die Gegenwart wird von ihr zu bizarren und unansehnlichen Objekten umgebaut. So mag der Betrachter in Hut (Isbuschka, 2012), einem mitten im Wald auf kannelierten Metallstützen aufgestellten und mit Kunstblumen dekorierten Marktzelt, die ins 21. Jahrhundert übertragene Hütte der Baba Jaga erkennen - oder aber eine Parodie auf den Architekturgeschmack der zeitgenössischen Eliten, die sich aus billigsten Materialien klassizistische Säulenhallen errichten lassen.

Korinas Arbeiten beziehen sich stets auf den Kontext des eigenen Landes - darin liegt ein entscheidender inhaltlicher Unterschied zu Genzken, die viele Jahre in den USA gelebt und sich nie als „deutsche Künstlerin“ begriffen hat.[12]

In mancher Hinsicht mag darin der Grund liegen, warum sich die beiden Künstlerinnen ab 2010 methodisch voneinander zu entfernen beginnen. Bei Genzken bleibt das Antimonumentale mit jener universellen, grenzübergreifenden Konsumkultur verbunden, die insbesondere in ihren entpersönlichten „Schauspielern“ (Schauspieler, 2013-2016) zum Ausdruck kommt - skurril gekleidete Schaufensterpuppen, die nicht einmal die Andeutung einer eigenen Identität aufweisen. In Korinas Arbeiten zeichnen sich dagegen zuletzt zwei parallele Tendenzen ab: einerseits eine sozialkritische - als Reaktion auf die Militarisierung sowie die Stagnation des russischen Gesellschaftslebens, gipfelnd in der totalen Installation Good Intentions von 2017 -, andererseits eine simulierende, bei der die Künstlerin mal aufblasbare Figuren, mal Fassadengewebe und Textilbanner mit unterschiedlichsten Texturen und Bildern dekoriert. In letzterem Fall wird die Assemblage aus realen Gegenständen abgelöst von der Konstruktion einer neuen Wirklichkeit als Spiegelung der heutigen Epoche des Verfalls, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu einem einzigen Schneeball verkleben - ein Kindheitsbild, das sich bei genauerer Betrachtung als hohle Blase erweist, wie etwa in der Installation Isotopes Stop (2019).[13] Korinas jüngste Arbeiten sind gleichfalls Antimonumente, vor allem, weil das Signifikat hier niemals nur durch den Signifikanten bestimmt wird. Sie lassen den Betrachter orientierungslos zurück, oder genauer: werfen ihn auf seine eigene Lebenserfahrung zurück. Diese Assemblagen zeichnen sich nicht so sehr durch epochentypische Fakturen und Materialien aus, sondern bestehen aus subjektiven Assoziationen und persönlichen Abrechnungen mit der Vergangenheit.

Isa Genzkens und Irina Korinas Werke zeigen: Die antimonumentalen Tendenzen in der Bildhauerei und Installationskunst zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeichnen sich durch eine grundsätzlich neue Herangehensweise aus. Es geht nicht einfach um eine Renaissance der Assembla- ge-Technik, sondern um deren Verbindung mit Bereichen, die sich bis dato außerhalb der bildenden Kunst befanden, wie Bühnengestaltung, Raum- und Umgebungsdesign oder Mode. Während Genzken ganz am Anfang dieses Verzichts auf Monumentalität stand und einen beispiellosen Einfluss auf die junge Generation westlicher Künstlerinnen ausübte,[14] hat sich Korina denselben Ansatz mit ihrem feinfühligen Sensorium für die eigene Zeit erarbeitet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Sichtweisen aus Berlin und Moskau sind sowohl Genzkens als auch Korinas Antimonumente als Reaktion auf ein und dieselbe Epoche zu verstehen: jene glamourösen 2000er-Jahre, die das Ende der klassischen Paradigmen in der Kunst einläuteten und den Übergang markierten in jenen hybriden Zustand, in dem wir uns heute befinden.

IRINA KORINA. Isotopes Stop. 2019IRINA KORINA. Isotopes Stop. 2019
IRINA KORINA. Isotopes Stop. 2019
Gruppenausstellung GUM-Red-Line, Moskau. Courtesy: GUM-Red-Line Gallery

ISA GENZKEN (*1948 in Bad Oldesloe) ist eine deutsche Künstlerin. Sie wurde unter anderem mit dem Großen Kunstpreis Berlin (2000) ausgezeichnet, dem Wolfgang-Hahn-Preis (2002), dem Kaiserring der Stadt Goslar (2017) sowie dem Nasher Prize des Nasher Sculpture Center, Dallas (2019). Dreimal war Genzken auf der documenta vertreten (1982, 1992, 2002), mehrfach auf der Biennale von Venedig sowie bei den Biennalen von Sidney (1988), Istanbul (2001), Taipeh (2006), Säo Paulo (2010), Moskau (2015) sowie Berlin und Montreal (2016). 2007 vertrat Genzken mit ihrer Arbeit Öl Deutschland bei der 52. Biennale von Venedig. Große Retrospektiven der Künstlerin haben unter anderem die Whitechapel Art Gallery, London, das Museum Ludwig, Köln, das MoMA, New York, die Kunsthalle Wien, das Stedelijk Museum, Amsterdam, der Martin-Gropius-Bau, Berlin, und die Kunsthalle Bern veranstaltet.

IRINA KORINA (*1977 in Moskau) ist eine russische Künstlerin und Bühnenbildnerin. 1999 erhielt sie den Theaterpreis „Debjut“. Mehrfach ausgezeichnet mit dem „Soratnik“-Preis für zeitgenössische Kunst (2006, 2009, 2012), Preisträgerin der italienischen „Terna“ (2012), Finalistin des Kandinsky-Preises in der Kategorie „Projekt des Jahres“ (2011,2014) sowie zweimalige Siegerin des Allrussischen Wettbewerbs „Innowazija“ für zeitgenössische Kunst, 2007 in der Kategorie „Neue Generation“ und 2014 in der Kategorie „Visuelles Kunstwerk“ (mit der Arbeit Refrain). 2009 war Korina im russischen Pavillon der 53. Biennale von Venedig und 2017 mit ihrer Installation Good Intentions in der zentralen Ausstellung Viva Arte Viva (kuratiert von Christine Macel) der 57. Biennale vertreten. Korinas bedeutendste Einzelausstellungen fanden im Museum Folkwang in Essen, im Moskauer Museum für moderne Kunst (MMoMA), an der Brooklyn Academy of Music in New York, im GRAD-Zentrum in London sowie im Rahmen des Steirischen Herbstes in Graz statt.

 

  1. Ausst.-Kat.: Unmonumental: the Object in the 21st Century. London: Phaidon; New York: New Museum, 2007.
  2. https://archive.newmuseum.org/exhibitions/918 (zuletzt aufgerufen am: 18.09.20)
  3. Für Korina ist nach eigener Aussage „die hellsten Kindheitserinnerungen das sowjetische Moskau, das ausschließlich aus Architektur und Bäumen besteht« (Eva Ruchina, „Irina Korina: ,Chudoznikov na svete sliskom mnogo, i eto vedet k krizisu pereproizvodstva'“, in: Artchronika, 2011, Nr. 2, S. 56).
  4. Schafhausen, Nicolaus (Hg.), Isa Genzken: Oil. German Pavillon, Venice Biennale 2007. Köln: DuMont, 2007, S. 156.
  5. Vgl. ebd., S. 155.
  6. Bis heute müssen Absolventinnen und Absolventen klassischer Kunstschulen in Russland, wenn sie eine Laufbahn als zeitgenössische Künstler*innen einschlagen wollen, meist einen weiteren Abschluss erwerben. So studierte Korina nach ihrem Abschluss am GITIS noch im Moskauer Institut für Fragen der zeitgenössischen Kunst sowie an der Akademie der bildenden Künste Wien.
  7. In der Apsis des Pavillons reproduzierte Haacke die Inschrift „Germania« aus dem Architrav des Gebäudes. Ebenso wie die Marmorböden stammt der Schriftzug - die lateinische (und italienische) Version für „Deutschland« - aus dem Jahr 1938, als der Pavillon nach einem Entwurf des Architekten Ernst Haiger umgebaut wurde. Denselben Namen plante Adolf Hitler der „Welthauptstadt« Berlin zu verleihen.
  8. Eine Anspielung auf dieses zentrale nationalsozialistische Postulat findet sich auch im Titel Bodenlos des Begleitbuchs zum deutschen Pavillon von 1993.
  9. Wie die Künstlerin selbst bemerkte, sah die Kritik in diesen Arbeiten bereits eine Herausforderung an den Minimalismus, da sie einen assoziativen Aspekt enthielten. Vgl. hierzu: „Diedrich Diederichsen in conversation with Isa Genzken“, in: Farquharson, Alex; Diederichsen, Diedrich; Breitwieser, Sabine, Isa Genzken. London: Phaidon, 2006, S. 15.
  10. Buchloh, Benjamin H. D., „All Things Being Equal“, in: Artforum, November 2005, S. 225.
  11. Genzkens riesige stählerne Blumen (die erste Rose wurde 1997 in Leipzig aufgestellt) sind eine Ausnahme im Gesamtwerk der Künstlerin. Es handelt sich dabei um Einzelobjekte, nicht etwa um vergrößerte Kopien anderer Arbeiten.
  12. Siehe Schafhausen, Nicolaus (Hg.), a.a.O., S. 155.
  13. Der Titel dieser Arbeit, deren Formen an altes sowjetisches Spielzeug erinnern, bezieht sich auf das ab 1959 am Lenin-Prospekt in Moskau befindliche Geschäft „Isotopen“.
  14. Zu nennen sind etwa Rachel Harrison (geb. 1966), Carol Bove (geb. 1971) oder Simon Denny (geb. 1982).
Abbildungen
ISA GENZKEN. Disco Soon (Ground Zero). 2008
ISA GENZKEN. Disco Soon (Ground Zero). 2008
Kartonage, Plastik, Spiegel, Sprühfarbe, Acrylfarbe, Metall, Textilbänder, Lichtschläuche, Spiegelfolie, Farbdruck auf Papier, MDF, Rollfüße. 219 × 205 × 165 cm. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow
IRINA KORINA. Back to the Future. 2004
IRINA KORINA. Back to the Future. 2004
XL Gallery, Moskau
ISA GENZKEN. Italian lamp. 2008
ISA GENZKEN. Italian lamp. 2008
Glas, Kunststoff, Metall, Klebeband, Acryl, Sprühfarbe, Glühbirne, Draht. 266 × 75 × 75 cm. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow
IRINA KORINA. Good Intentions. 2017
IRINA KORINA. Good Intentions. 2017
Zentrale Ausstellung „Viva Arte Viva“ der 57. Biennale von Venedig
ISA GENZKEN. Elephant. 2006
ISA GENZKEN. Elephant. 2006
Holz, Kunststoffrohre, Vorhanglamellen, Plastikfolie, Spiegelfolie, Kunstblumen, Textil, Kunststoff, Spielfiguren, Luftpolsterfolie, Klebeband, Lack, Sprühfarbe. 200 × 220 × 100 cm. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow
IRINA KORINA. Hut. 2012
IRINA KORINA. Hut. 2012
IRINA KORINA. Hut. 2012
aus der Ausstellung „Stalker. Kunst in der Fabrik“, Moskau
ISA GENZKEN. Wind. Installationsansicht Galerie Buchholz, Berlin, 2009
ISA GENZKEN. Wind. Installationsansicht Galerie Buchholz, Berlin, 2009
Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow
IRINA KORINA. Night Charge. 2009
IRINA KORINA. Night Charge. 2009
Installationsansicht, XL Gallery, Moskau
ISA GENZKEN. Fuck the Bauhaus # 2. 2000
ISA GENZKEN. Fuck the Bauhaus # 2. 2000
Sperrholz, Kunststoff, Papier, Pappe, Pizzaschachtel, Plastikblumen, Steine, Klebeband, Modellbäume, Spielzeugauto. 210 × 70 × 51 cm. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow
Installationsansicht: „Isa Genzken. Ground Zero“. Hauser & Wirth London, 2008
Installationsansicht: „Isa Genzken. Ground Zero“. Hauser & Wirth London, 2008
Foto: Hugo Gledining
IRINA KORINA. Not Just about You. 2018
IRINA KORINA. Not Just about You. 2018
Installationsansicht Winzavod Center for Contemporary Art, Мoskau
Foto: Alexey Narodizkiy
IRINA KORINA. When the trees were big. 2010
IRINA KORINA. When the trees were big. 2010
IRINA KORINA. When the trees were big. 2010
Installationsansicht, MAC VAL – Musée d'Art Contemporain du Val-de-Marne
Foto: © Jacques Faujour
ISA GENZKEN. Installation im MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt. 2015
ISA GENZKEN. Installation im MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt. 2015
Foto: Axel Schneider, Frankfurt. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow
ISA GENZKEN. Urlaub. 2004
ISA GENZKEN. Urlaub. 2004
Glas, Strohhut, Tennisschläger, Kunststoff-Spielfiguren, Porzellanfigur, Kunststoff, Metall, bedrucktes Papier, Spiegelfolie, Lack, Sprühfarbe, Holz. 227 × 165 × 55 cm. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow
ISA GENZKEN. Strauß. 2004
ISA GENZKEN. Strauß. 2004
Kunstblumen, Kunststoff, Glas, Lack, Spiegelfolie, Klebeband, Holz. 260 × 115 × 130 cm. Courtesy Galerie Buchholz, Berlin/Cologne/New York
© VG Bild-Kunst, Bonn / UPRAVIS, Moscow

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