DAS VORWÄRTS GEDACHTE MUSEUM. Ein Gespräch mit Susanne Pfeffer und Yilmaz Dziewior

Melanie Weidemüller

Magazine issue: 
#1 2021 (70), Sonderausgabe "Deutschland - Russland. Perspektiven auf die Kunst- und Museumsszene"

Die Entwicklungen und Themen unserer Zeit beschäftigen auch Künstlerinnen und Museen. Zwei der prominentesten Persönlichkeiten im deutschen Kunstbetrieb sind derzeit Susanne Pfeffer, Direktorin des MUSEUM MMK FÜR MODERNE KUNST in Frankfurt, und Yilmaz Dziewior, Direktor des Kölner MUSEUM LUDWIG. Beide stehen für einen entschiedenen Kurs der Öffnung und Erneuerung der Institution Museum. Im Interview stellen sie ihre Häuser vor und sprechen über gesellschaftliche Vielfalt, Antirassismus, Ökologie und das seismografische Gespür von Künstlerinnen für die Gegenwart.

MELANIE WEIDEMÜLLER: Frau Pfeffer, als Kunsthistorikerin haben Sie Ihre Abschlussarbeit interessanterweise über das Mittelalter geschrieben, dann aber beruflich eine klare Entscheidung für die zeitgenössische Kunst getroffen. In diesem Bereich haben Sie inzwischen rund 70 Ausstellungen kuratiert. Ich erwähne als vielbeachtete Ereignisse Inhuman in Kassel, Anne Imhof im Deutschen Pavillon auf der Biennale Venedig 2017 oder die Künstlerin Cady Noland, mit der Sie 2018 Ihre Amtszeit in Frankfurt eröffnet haben. Was hat Sie geprägt und zu Ihrem eigenen Ansatz geführt?

Susanne Pfeffer: Was mich immer interessiert hat und bis heute reizt, sind diejenigen Dinge, die nicht sofort zugänglich sind. Deswegen hat mich auch damals das Mittelalter fasziniert, eine Zeit, die fälschlicherweise sehr verklärt wird und tatsächlich extrem widersprüchlich ist. Eine entscheidende Motivation ist für mich zudem das Arbeiten mit den Künstlerinnen, mit noch lebenden Künst lerinnen, was ja bei der zeitgenössischen Kunst meist der Fall ist. Die fehlende historische Distanz macht hier die Einschätzung schwieriger, aber natürlich auch brisanter und interessanter. Damit meine ich, dass man wirklich versucht, die Zeit, in der man lebt, anhand der Kunst zu reflektieren, weil Künstlerinnen extrem sensibel sind für Veränderungen und für Brüche. Ich habe auch immer sehr gerne Neuproduktionen zusammen mit Künstler*innen entwickelt, weil man dabei das Werk nochmal genauer verstehen und sehen lernt. Das ist vielleicht eine Art Grundvoraussetzung für meine Arbeit.

Sie haben einmal ironisch die Medienberichte kommentiert: Erst galten Sie als eine Malerei-Kuratorin, dann als Film-Kuratorin, dann als Kuratorin für neue Technologien. Wie sehen Sie das selbst?

SP: Die Außenwahrnehmung hat mich nie so sehr interessiert. Es ist in der Zeit bedingt, welche Ausstellungen man gerade macht und zu welchen Themen. Wenn es bei Cady Noland viel um Gewalt ging, dann liegt das ja nicht daran, dass ich mir ausdenke, dass Gewalt ein tolles Thema ist. Vielmehr daran, dass wir in einer Zeit leben, in der die Gewalt in der Gesellschaft immer offensichtlicher wird. Und die Künstlerinnen sind meist sehr nah an der Zeit. Ich selber habe mich tatsächlich erst intensiv mit neuen Technologien auseinandergesetzt, als das Thema so offensichtlich in der Kunst wurde. In der von Ihnen erwähnten Ausstellung Inhuman ging es darum, die Welt jenseits des Menschen zu denken, ein Bezug auf den Philosophen Jean Frangois Lyotard und auf die Gedankenfiguren des Spekulativen Realismus, der den Begriff in diesem Sinne geprägt hat. Rein rechnerisch wird die Welt irgendwann implodieren, besagt die Wissenschaft, und wir haben mit dieser Ausstellung versucht, diese Welt ohne den Menschen zu denken.

Ziehen wir Herrn Dziewior hinzu: Seit fünf Jahren leiten Sie sehr erfolgreich das Kölner Museum Ludwig. In dieser Stadt hat Ihre Karriere damals auch begonnen, als Köln in den 1990er-Jahren ein wichtiges Zentrum der Kunstdiskurse war: die Zeit der Institutionskritik, als Künstlerinnen die Institution Museum kritisch hinterfragten - etwa Andrea Fraser mit ihren provozierenden Performances -, mit der Szene um die Zeitschrift Texte zur Kunst und die Galerien Nagel und Buchholz. Was waren die wichtigsten Einflüsse?

Yilmaz Dziewior: Die Sozialisierung in diesem spezifischen Umfeld in Köln hat mich tatsächlich sehr geprägt. Es gab die Texte zur Kunst als Publikationsorgan, mit dem man sich identifizierte, Künstlerinnen wie Andrea Fraser, Christian Philipp Müller, Renee Green. Hinzu kam, dass mich Fragen von kultureller Identität immer schon interessiert haben, auch aus eigener Erfahrung: Ich werde häufig auf meine türkische Abstammung angesprochen, allein aufgrund des Namens. Selbst- und Fremdzuschreibungen sind ein wichtiges Thema. Dieses Interesse gab es schon, als ich 1999 Co-Kurator der Ausstellung Kunstwelten im Dialog - Von Gauguin zur globalen Gegenwart war, und es setzte sich fort mit Künstlern wie Bodys Isek Kingelez als erste Präsentation am Hamburger Kunstverein (2001) oder dem Brasilianer Cildo Meireles (2004). Ähnlich wie Susanne Pfeffer würde ich aber auch sagen, dass mich das künstlerische Werk einer Position interessiert, auf das ich dann reagiere. Man muss sich ja auch die Frage gefallen lassen, warum man mit der einen Künstlerin arbeitet und mit dem anderen Künstler nicht! Es gibt Interessen, Vorprägungen und Vorlieben, die einen zu bestimmten Positionen hinführen. Das ist bei mir natürlich auch so.

Die Sammlung steht klassischerweise im Zentrum der Museumsarbeit. Was zeichnet die Sammlung des Museum Ludwig aus, die Sie bei Amtsantritt vorgefunden haben, und welche Strategie haben Sie daraus entwickelt?

YD: Das Zentrale und wesentlich ist für mich die Sammlung! Ähnlich wichtig ist aber auch das Team: Jede oder jeder schaut spezifisch auf sie, findet andere Aspekte, das macht die Arbeit mit der Sammlung so spannend. Als Besonderheit unseres Hauses möchte ich hervorheben, dass das Sammlerpaar Irene und Peter Ludwig damals bereits ein Verständnis von sogenannter „Weltkunst“ hatte. Die Ludwigs haben sehr früh beispielsweise Werke chinesischer Künstlerinnen angekauft, noch vor der Harald-Szeemann-Biennale 1999, als diese den ersten großen Auftritt in Europa hatten. Der Blick über die europäische und nordamerikanische Kunst hinaus ist also in der Sammlung angelegt. Das bedeutet, dass ich zusammen mit einem sehr engagierten Team das fortführen kann, was mich schon immer beschäftigt, nämlich die Erweiterung des Horizonts - sowohl im Hinblick auf die Sammlung als auch auf das Ausstellungsprogramm. Heute ist das viel selbstverständlicher. Als Peter und Irene Ludwig damit begannen, war es das keineswegs: Es war lange vor der wegweisenden documenta 1997 unter der Leitung von Catherine David, lange vor der documenta von Okwui Enwezor 2002, die beide den westlichen Diskurs entscheidend erweitert haben.

„MAN BRICHT DEN TRADITIONELLEN KANON AUF, GLEICHZEITIG ERSTELLT MAN WIEDER EINEN NEUEN KANON – DEM ENTKOMMT MAN NICHT.“
Susanne Pfeffer

Frau Pfeffer, das Frankfurter MMK zeichnet sich weniger durch so eine starke Sammlerpersönlichkeit wie Peter Ludwig aus. Welches Profil hat die Sammlung dort, was hat Sie an Ihrer aktuellen Aufgabe gereizt?

SP: Mein Anknüpfungspunkt war, dass das MMK eigentlich zuletzt immer ein Haus des Experimentes war und auch hoffentlich noch ist. Hier wurden immer sehr wagnisvolle Ausstellungen gemacht, unter den Direktorinnen Jean-Christophe Ammann, Udo Kittelmann oder Susanne Gaensheimer. Mit rund 5.000 Werken ist eseine eher kleine, aber spezifische und exquisite Sammlung, die auf der ehemaligen Sammlung Ströher aufbaut sowie der Sammlung des Galeristen Rolf Ricke. Wir haben die größte On-Kawara-Kollektion der Welt, die größte Thomas-Bayrle-Sammlung, das Archiv von Peter Roehr, Werkgruppen von Elaine Sturtevant, Rosemarie Trockel, Marlene Dumas - eigentlich ist die ganze Kunst der Gegenwart seit den 1960er-Jahren vertreten. Vieles lässt natürlich einen westlichen Blick und Diskurs erkennen und auch mir ist es wichtig, diese Perspektive zu öffnen, soweit das möglich ist. Man bricht den traditionellen Kanon auf, gleichzeitig erstellt man natürlich wieder einen neuen Kanon - dem entkommt man nicht. Mit dieser Frage des Kanons werden wir uns auch in Ausstellungen künftig noch beschäftigen.

Gehört die permanente Selbstreflexion heute zu den Kernaufgaben eines Museums?

YD: Für mich unbedingt! Deswegen haben wir zum Beispiel 2016 zum 40-jährigen Bestehen des Hauses nicht einfach Highlights der Sammlung präsentiert, sondern eine sehr selbstreflexive und selbstkritische Ausstellung gemacht unter dem Titel Wir nennen es Ludwig. Wir haben 25 Künstler*innen eingeladen, sich damit auseinanderzusetzen, was das Museum für sie ist, was es war und was es sein könnte, und jede*r ein Produktionsbudget für eine neue Arbeit zur Verfügung gestellt. Es sind dann sehr spannende, auch überraschende Projekte realisiert worden.

SP: Was ein Museum ist, das definieren wir ja. Was ist ein Museum, was sollte es sein, wie begreift man diese Aufgabe? Anfangs empfindet man es schon als eine große Verantwortung, eine Sammlung weiterzuführen, natürlich mit dem Impetus, es für die kommenden Generationen interessant zu gestalten. Ich versuche Künstler*innen in die Sammlung aufzunehmen, von denen ich glaube, dass sie auch in ein paar Jahrzehnten eine Wichtigkeit haben. Durch unseren Förderkreis, Partner und Stiftungen sowie die städtische Unterstützung haben wir zum Glück einen Ankaufsetat, der uns erlaubt, auch neue Akzente zu setzen.

Mit der Cady-Noland-Ausstellung haben Sie zur Eröffnung Ihrer Amtszeit am MMK ein starkes Statement gesetzt, entsprechend lebhaft war die Debatte darüber. War es beabsichtigt, gleich auch die Frage mit aufzuwerfen, was ein Museum alles sein kann?

SP: Bei der ersten Ausstellung war das gar nicht so. Ich wollte das Haus erst einmal kennenlernen. Es wird häufig unterschätzt und ist doch offenkundig, dass nicht nur die Künstlerinnen und die Zeit, sondern auch die Räume definieren, was man zeigt. Dieses Haus ist für mich auch ein Organismus. Die meisten Besucherinnen sind länger als zwei Stunden in den Ausstellungsräumen und merken es gar nicht, weil jeder Raum anders ist und man so frei wählen kann, wie man sich durch dieses Gebäude bewegt. Inhaltlich war der Grund, dass Cady Noland bereits in der Sammlung vertreten war, als Teil der Sammlung Ricke, und ich sie für wichtig erachte. Noland legt in ihren Arbeiten jene Gewalt frei, die uns in Szenarien der räumlichen wie ideologischen Grenzziehung tagtäglich begegnet. Damit entblößt sie die - vermeintliche - Neutralität von Material und Form. Die scheinbar scharfe Trennung zwischen Objekten und Subjekten verschwimmt. Das spürt man als Betrachterin, die unablässigen Wechselwirkungen werden unmittelbar erlebbar.

Aktuell zeigen Sie eine Retrospektive des in der Karibik geborenen Künstlers Frank Walter (1926-2009). Was ist hier der Hintergrund?

SP: Wir haben sehr wenige Arbeiten in der Sammlung, die sich mit dem postkolonialen Diskurs auseinandersetzen, eigentlich nur zwei. Ich sehe das Museum auch als intellektuelle und diskursive Plattform, wo man sich Themen stellt, und das tut die Frank-Walter-Ausstellung sehr explizit. Der gesellschaftliche Kontext seines Werkes ist der hierzulande leider wenig bekannte Kolonialismus in der Karibik. Wer weiß hier schon, was es bedeutet, 1926 in der Karibik geboren zu sein, was es bedeutet, in den 1950er-Jahren als Schwarzer Mann nach Europa zu kommen, sich als Mitglied des Commonwealth - also als Brite - zu empfinden und dann Ausgrenzung zu erfahren. Kolonialismus und Rassismus sind Themen, die uns alle betreffen und sehr aktuell sind. So eine Ausstellung geht dann wiederum in die Geschichte beziehungsweise in das Gedächtnis des Hauses ein, das heißt in die Sammlung. Das ist das vorwärts gedachte Museum und nicht dieses rückwärts gedachte Modell - und das ist für mich auch Museumsarbeit.

Herr Dziewior, finden Sie im Programm der Kollegin Anknüpfungspunkte?

YD: Ich habe bisher alle Ausstellungen am MMK unter der Leitung von Susanne Pfeffer gesehen und war schon vorher ein Fan ihrer Arbeit. Als ich zuletzt wegen Frank Walter dort war, zeigten wir in Köln gerade die Ausstellung Mapping the Collection und parallel Dynamische Räume, eine Kooperation mit dem Magazin C& (Contemporary And). Da habe ich sehr viele Anknüpfungspunkte gesehen. Für mich bezeichnet „Dekolonialisierung des Museums“ auch einen rassismuskritischen Prozess, in dem wir uns mit dem Museumsteam befinden, in dem wir aber erst ganz, ganz am Anfang sind. Mit Mapping the Collection haben wir einen kritischen Blick auf unsere eigene Sammlung geworfen: Im Fokus stand diesmal nicht so sehr die amerikanische Pop Art, für die das Ludwig berühmt ist, sondern wir haben den Fokus auf die Bürgerrechtsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre in den USA gelegt, die sich auch in der Kunst widerspiegeln, auf Themen wie indigene Selbstbestimmung, Black Power, Feminismus. Was uns als Team umtreibt, ist aber die Beobachtung und Erkenntnis: Es reicht nicht, diese Ausstellungen zu machen. Und es reicht nicht, Werke punktuell anzukaufen. Es muss ein strukturelles Umdenken geben und das bedeutet, wirklich ans Eingemachte zu gehen: Wie ist das Museumsteam zusammengesetzt im Hinblick auf Herkunft, Geschlecht, ist die Diversität tatsächlich im eigenen Haus vorhanden? Dies zu verändern erfordert ökonomische Ressourcen, auch Zeitressourcen, das kann man nicht alleine schaffen. Solche strukturellen, tiefgreifenden Veränderungen, die die deutschen Museen meines Erachtens dringend brauchen, funktionieren nur, wenn man eine ganze Reihe von Personen am Haus hat, die das mit vorantreiben. Unsere Kuratorin Miriam Swast setzt sich beispielsweise gerade sehr dezidiert mit ökologischen Fragen auseinander. Sie kuratiert auch 2021 die Ausstellung Grüne Moderne, die Teil unserer längerfristigen Strategie ist, ein „Grünes Museum“ zu sein, das heißt eine ökologiebewusste Institution. Das finde ich wichtig, weil Ökologie wiederum eng verknüpft ist mit allgemein gesellschaftlichen, also sozialen und ökonomischen Themen.

Postkoloniale und ökologische Themen als zentrale Herausforderungen: Frau Pfeffer, stimmen Sie zu?

SP: Durchaus. Wir haben schon mit der Ausstellung Weil ich nun mal hier lebe 2018 hier am Haus angefangen, auch auf die eigenen Rassismen zu schauen. Zuerst hatten wir uns auf afroamerikanische Künstler*innen und die USA konzentriert, doch dann gab es zu dieser Zeit hier in Deutschland den Prozess gegen die rechtsextreme Terrorgruppe NSU und uns wurde klar, dass wir uns mit dem deutschen Rassismus und Antisemitismus in der Geschichte und Gegenwart auseinandersetzen wollen. Ich denke aber auch, es braucht unter dem Stichwort „Dekolonisierung“ mehr als relevante Ausstellungen. Wir machen Weiterbildungen im Team zum Sprachgebrauch, zu strukturellem Rassismus, beschäftigen uns mit Vorstellungen des sogenannten „Fremden“. Das ist für uns als Museen auch ein gesellschaftlicher Auftrag. Er beginnt im Haus selber, bei der Mitarbeiterinnenstruktur, und ich stimme zu, dass wir das nicht alleine schaffen. Wir sollten aber wirklich klar Position beziehen. Nochmal: Wir definieren, was ein Museum ist. Wir sind da auch frei, es ist das, was wir machen. Ein Museum sind Menschen!

„SO SEHR ICH DIE INSTITUTION MUSEUM LIEBE, WEIL SIE DIE GRUNDLAGE IST, UM MIT DER KUNST ETWAS ZU ENTWICKELN, SO SEHR MUSS MAN SIE ALS INSTITUTION AUCH BEKÄMPFEN.“
Susanne Pfeffer

Werden die Museen wirklich in zehn, fünfzig Jahren ganz anders aussehen?

Eine Institution an sich ist etwas, das sich immer auch selbst erhalten will, das mit der Zeit verkrustet, deswegen habe ich immer auch versucht gegen die Institution zu arbeiten - also die Grenzen aufzuweichen, Neues zu wagen. Was Künstlerinnen sowieso tun, die Regelverletzung ist dort ja sozusagen zuhause. So sehr ich die Institution Museum liebe, weil sie die Grundlage ist, um mit der Kunst etwas zu entwickeln, so sehr muss man sie als Institution auch bekämpfen.

YD: Wir sind uns da sehr einig. Ich möchte vielleicht für das Gesamtbild ergänzen, dass diese Sichtweise keineswegs die Regel ist an deutschen Museen. Teilweise herrscht dort ein weit konservativeres Denken vor.

Welche anderen Häuser, auch international, haben für Sie denn im Moment Modellcharakter?

SP: Bezüglich einer Dekolonisierung muss man sagen: Da läuft Europa total hinterher. Wir sind natürlich inhaltlich viel freier in der Arbeit und ich halte das europäische Modell der Museen insgesamt für ein gutes Modell. Aber strukturelle Veränderungen finden, auch in den intellektuellen Debatten, in den USA auf einem anderen Niveau statt und haben eine ganz andere Radikalität in der Umsetzung. Davon sind die Museen hier noch alle sehr weit entfernt.

„WIE VIEL ZEIT HABEN WIR DENN WIRKLICH ZU FORSCHEN, UNS MIT KUNSTHISTORISCHER WISSENSCHAFT, PUBLIKATIONEN, DEM DEPOT ZU BEFASSEN?“
Yilmaz Dziewior

Anders betrachtet: Hat sich in den letzten Jahren manches nicht rasant schnell verändert, wenn man bedenkt, wie langsam historische Zeitläufte gewöhnlich sind? Den Begriff „Diversity“ hat doch in Deutschland vor zehn Jahren niemand gebraucht; niemand hätte gefordert, Bilder ins Depot zu verbannen, weil die Darstellung aus heutiger Sicht sexistisch erscheint - die Sensibilisierung ist extrem gestiegen.

YD: Es kommt immer darauf an, wie hoch man die Latte legt. Wir sind erst am Anfang einer Debatte über Diversität mit ihren verschiedenen Aspekten: Die vergangenen zehn Jahre ging es eher um die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, um Genderfragen, sexuelle Selbstbestimmung. Da gibt es in Deutschland in den Museen einen Fortschritt, bis in die Leitungsfunktionen hinein. Was aber ethnische und erst recht soziale Herkunft betrifft, gibt es ihn bislang kaum: In bestimmten Positionen, etwa bei den Kurator*innen, kommen fast alle Mitarbeiter*innen aus Akademikerfamilien, zumindest aus der Mittelschicht. Wir fangen gerade an, über ethnische Herkunft und Zugehörigkeit zu sprechen - über soziale Klasse aber bislang nur in Ansätzen!

Wir haben viel über Veränderungsbedarf gesprochen. Die Kernaufgaben eines Museums - Sammeln, Forschen, Vermitteln - bleiben aber die Basis, oder sehen Sie diese auch infrage gestellt?

YD: Das ist ja gar nicht mehr die Realität! Schauen Sie sich heute die Aktivitäten eines Museums, auch unseres Museums, doch mal genau an: Wie viel Zeit haben wir denn wirklich zu forschen, uns mit kunsthistorischer Wissenschaft, Publikationen, dem Depot zu befassen? Das ist ein Ideal. Wir müssen diese Selbstverständlichkeit, die es ja eigentlich ist, aber immer wieder einfordern.

SP: Ich habe den Museumsbetrieb hier von Anfang an verlangsamt, denn für mich ergibt es gar keinen Sinn, so viele Ausstellungen abzuspulen. Im Haupthaus machen wir zwei pro Jahr, denen aber oft komplexe Recherchen und Vorbereitungen vorweggehen. Tatsächlich ist der Aspekt der Forschung in den vergangenen Jahren zunehmend in den Hintergrund getreten. Ich bin sehr viel in Archiven und es gehört für mich zum Selbstverständnis als Direktorin unbedingt dazu. Diese ständige Beschleunigung, die wir zuletzt erlebt haben, führt ja möglicherweise auch zu weniger Nachdenken - was natürlich nicht unbedingt förderlich ist für unsere Zukunft. Ich verwehre mich auch gegen ein ökonomisches Denken und die dazugehörige Sprache im Bereich der Museen. Wir sind eine Bildungsinstitution und das ist unser Auftrag!

Allerdings erreichen die Museen bildungsferne Schichten nach wie vor in der Regel nicht. Muss sich auch die Kunstvermittlung ändern, welche Bedeutung hat sie?

YD: Eine große. Wir merken, dass wir nicht nur mehr, sondern auch andere Menschen erreichen, wenn wir die Vermittlung gezielt verstärken. Bei der Ausstellung der Künstlerin Nil Yalter vergangenes Jahr, einer Pionierin im Bereich gesellschaftlich engagierter Kunst, sind wir mit dem Vermittlungsprogramm in jene Stadtteile gegangen, wo die migrantischen Communitys leben, und das hat gut funktioniert: Es kamen auch andere gesellschaftliche Gruppen ins Museum. Jetzt gerade läuft die Ausstellung zur Russischen Avantgarde, zu der wir ein mehrjähriges Forschungsprojekt mit internationalen Fachleuten durchführen, dessen erste Ergebnisse wir den Besucher*innen in einer auch für Laien verständlichen Form präsentieren. So bringen wir ihnen eine wichtige Aufgabe unseres Hauses nahe - die Archivforschung, auch die Kompetenzen der Restaurierungsspezialistinnen - und das wird gut angenommen.

Ich möchte gern auf die Corona Pandemie mit ihren vielfältigen Folgen zu sprechen kommen, als persönliche Erfahrung, aber auch im Hinblick auf ein System, das in dieser Ausnahmesituation plötzlich seine Verletzbarkeit offenbart. Die kapitalistische Ausbeutung von Natur und Menschen scheint sich zu rächen; die ungebremste Mobilität der vergangenen zehn Jahre, gerade auch des internationalen Kunstbetriebs, ist erst einmal ausgebremst. Die Zeichen stehen auf Veränderung. Ist diese Situation nicht auch eine große Chance, Dinge neu zu denken, auch für den Kunstbetrieb?

SP: Die Strukturen der Gesellschaft werden gerade sehr offenkundig, auch in ihren Abgründen. Die letzten Monate haben uns gezeigt, dass das Museum als Ort wichtig ist, als realer Ort, und dass die digitalen Vermittlungsprogramme ihre Grenzen haben. Letztlich geht es darum, dass die Menschen sich mit ihren realen Körpern in den realen Räumen mit der Kunst bewegen. Das ist nicht ersetzbar, auch das ist vielen in den vergangenen Monaten klar geworden. Was das Reisen betrifft: Jenseits der ökologischen Faktoren, die eine der wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart sind, habe ich auch Angst vor einer Lokalisierung. Der Austausch mit Künstlerinnen, Kolleginnen, Freundinnen, auch international, ist mir extrem wichtig und weder Telefon noch Skype und Videokonferenz können ein persönliches Treffen wirklich ersetzen. Die Form des Sprechens und des Denkens ist eine andere. Ich habe sehr stark das Gefühl, dass die wirklichen Konsequenzen noch kaum zu beurteilen sind. Wir sind zu sehr mittendrin, um komplex darüber nachzudenken.

YD: Das Positive ist für mich vielleicht ein gewisser Freiraum, auch die Sturheit weiterzumachen gegen alle Widerstände. Die Besucher*innenzahlen werden zwar abgefragt, aber jede*r weiß, die sind gerade nicht groß. Wir als Institution nutzen diese Situation, um Dinge voranzutreiben, die wir sowieso vorhatten: die Digitalisierung auszubauen, mit der Sammlung zu arbeiten statt mit Leihgaben, die vom anderen Ende der Welt hierherreisen müssen. Sich auf das Kerngeschäft zu konzentrieren und weniger, aber sehr durchdachte Ausstellungen zu machen. So wird diese Krise vielleicht auch unsere Museen zu den notwendigen Veränderungen treiben. Das ist vielleicht wishful thinking - aber es ist unser Anliegen, diese Krise auch zu nutzen.

Kommen wir zum Abschluss auf das Ausstellungsprogramm zurück: Derzeit läuft im Museum Ludwig die große Schau Andy Warhol Now. Andy Warhol verspricht natürlich einen Blockbuster, die Frage ist: Kann man einem so weltbekannten, so vielfach ausgestellten Künstler noch neue Aspekte abgewinnen?

YD: Wir versuchen genau das. Wir stellen mit Andy Warhol eine prominente Figur vor, gleichzeitig werfen wir einen spezifischen Blick auf diesen Künstler: Es geht uns um Warhols Zugehörigkeit und Affinität zu einer diversen, queeren Subkultur, denn das macht die aktuelle gesellschaftliche Relevanz dieses Œuvres aus. Dafür stehen Werke wie die Serie Ladies and Gentlemen von 1975. Warhol war der Sohn einer eingewanderten russinischen, sehr religiösen Familie, auch das spiegelt sich in seinem Werk wider, nicht nur in den berühmten Bildern Crosses oder Last Supper. Wir haben also sehr spezifische Fragestellungen an dieses hochkomplexe Werk - sonst wäre es tatsächlich langweilig, Andy Warhol im Jahr 2020 zu zeigen.

Frau Pfeffer, über die aktuelle Frank-Walter-Retrospektive lese ich im Ausstellungstext: „Es gibt keinen typischen Frank Walter. Sein malerisches Spektrum ist frei und weit. Sein Blick ist der eigene.“ Was genau ist dieser „eigene Blick“ des Frank Walter?

SP: Walter schuf in einer unglaublichen Intensität, die in seinem Werk sichtbar und spürbar ist. Allein in der Kunst war er frei. Hier konnte er in einer unglaublichen Vielfalt seine Welten entwerfen: Seine kosmologischen Malereien erstrahlen transzendental, seine abstrakten Werke sind systematisch, seine figurative Malerei besticht in ihrer Individualität. Auch seine Landschaften erstarken in klaren Abstraktionen, man kann sagen: Alle Arbeiten Walters sind von ausgefallener Klarheit und Direktheit. Die Konzentration - es sind kleine Formate - eröffnet einen unverstellten Zugang. Wenn er nicht malte, dann schrieb er; wenn er nicht schrieb, fertigte er Tonaufnahmen an. Nur in seiner Kunst war er frei von der Brutalität der Normen und Zuschreibungen, die außerhalb seines Kunstschaffens permanent anwesend war. <<

Prof. SUSANNE PFEFFER

Prof. SUSANNE PFEFFER (*1973 in Hagen) ist Kunsthistorikerin und Kuratorin und leitet seit 2018 das Museum für Moderne Kunst MMK in Frankfurt. Zuvor war sie Künstlerische Leiterin des Künstlerhaus Bremen (2004-2006), Chefkuratorin der KW Institute for Contemporary Art in Berlin (2007-2012) und Direktorin des Museum Fridericianum in Kassel (2013-2017). Sie erhielt Auszeichnungen für ihre Ausstellung mit Kenneth Anger im MoMA PS1 in New York (Kunstkritikerverband AICA), den Kurator*innenpreis des Kunstmagazins ART für Inhuman (2016) und gewann 2017 mit Faust von Anne Imhof auf der Biennale Venedig den Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag. Sie lehrt als Honorarprofessorin an der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main.

MELANIE WEIDEMÜLLER

Das Interview führte MELANIE WEIDEMÜLLER. Sie lebt als Kulturjournalistin in Köln und arbeitet für verschiedene Printmedien und Radiosender (u.a. Deutschlandfunk, WDR). Mitglied des Kritikerverbands AICA (Association Internationale des Critiques D‘art). Für diese Sonderausgabe des Tretjakow-Magazin war sie Redakteurin der deutschen Beiträge.

YILMAZ DZIEWIOR

Dr. YILMAZ DZIEWIOR (*1964 in Bonn) ist Kunsthistoriker und Kurator und seit 2015 Direktor des Museum Ludwig in Köln. Die Sammlung zeitgenössischer Kunst mit den Schwerpunkten US-amerikanische Pop Art, Picasso und Russische Avantgarde genießt internationales Ansehen. Vorher war er Direktor des Kunstvereins Hamburg (2001-2008) und des Kunsthauses Bregenz in Österreich (2009-2015), arbeitete als freier Kurator und Publizist. Parallel lehrte er als Professor für Kunsttheorie an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Im Mai 2020 wurde er zum Kommissar des Deutschen Pavillons auf der kommenden Biennale in Venedig berufen.

Abbildungen
CADY NOLAND. Publyck Sculpture. 1994
CADY NOLAND. Publyck Sculpture. 1994
Glenstone Museum, Potomac, Maryland Installationsansicht Museum MMK für Moderne Kunst
Foto: Fabian Frinzel
DIANGO HERNÁNDEZ. Sailors. 2016. Wandmalerei. Ludwig. 2016. Sculpture
DIANGO HERNÁNDEZ. Sailors. 2016
Wandmalerei. Ludwig. 2016
Skulptur aus pulverbeschichtetem Aluminium, im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Wir nennen es Ludwig“ im Museum Ludwig, 2016
Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln, Britta Schlier
Museum MMK für Moderne Kunst Frankfurt am Main
Museum MMK für Moderne Kunst Frankfurt am Main
Foto: Axel Schneider
Installationsansicht FRIDA ORUPABO. Ohne Titel. 2020
Installationsansicht FRIDA ORUPABO. Ohne Titel. 2020
„HIER UND JETZT im Museum Ludwig. Dynamische Räume“, Museum Ludwig, Köln 2020
© Contemporary And Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Nina Siefke
Installationsansicht NKIRUKA OPARAH. SUOON. 2020
Installationsansicht NKIRUKA OPARAH. SUOON. 2020
„HIER UND JETZT im Museum Ludwig. Dynamische Räume“, Museum Ludwig, Köln 2020
© Contemporary And Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Nina Siefke
THOMAS RUFF. anderes Porträt Nr. 143 A/14, 1994/95; anderes Porträt Nr. 50/29, 1994/95; anderes Porträt Nr. 143/131, 1994/95
THOMAS RUFF. anderes Porträt Nr. 143 A/14, 1994/95;
anderes Porträt Nr. 50/29, 1994/95;
anderes Porträt Nr. 143/131, 1994/95
© VG Bild-Kunst 2020 Foto: Axel Schneider
THOMAS BAYRLE. Rosaire. 2012
THOMAS BAYRLE. Rosaire. 2012
© VG Bild-Kunst 2020
Museum MMK für Moderne Kunst. Foto: Axel Schneider
ON KAWARA. 10 AVR. 1995. 1995
ON KAWARA. 10 AVR. 1995. 1995
aus der Serie „Today Serie“ 1966-2013
ON KAWARA. DEC.31.1996. 1996
ON KAWARA. DEC.31.1996. 1996
aus der Serie „Today Serie“ 1966-2013
MINERVA CUEVAS. IUF (International Understanding Foundation). 2016
MINERVA CUEVAS. IUF (International Understanding Foundation). 2016
Installation im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Wir nennen es Ludwig“ im Museum Ludwig, 2016
Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Britta Schlier
HENRIKE NAUMANN. 14 Words
HENRIKE NAUMANN. 14 Words
Installationsansicht in der Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“
Museum MMK für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, 2018
FORENSIC ARCHITECTURE. Installationsansicht in der Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“. 2018
FORENSIC ARCHITECTURE. Installationsansicht in der Ausstellung „Weil ich nun mal hier lebe“
Museum MMK für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, 2018
Foto: Axel Schneider
Installationsansicht „Mapping the Collection“ Museum Ludwig, Köln 2020
Installationsansicht „Mapping the Collection“ Museum Ludwig, Köln 2020
Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Nina Siefke
HUANG YONG PING. Kiosk. 1994
HUANG YONG PING. Kiosk. 1994
Installation. Dauerleihgabe Peter und Irene Ludwig Stiftung, 1994
OLIVER LARIC. The Hunter and His Dog. 2015
OLIVER LARIC. The Hunter and His Dog
Ausstellungsansicht „Inhuman“. Museum Fridericianum Kassel, 2015
CADY NOLAND. Deep Social Space. 1989
CADY NOLAND. Deep Social Space. 1989
Installationsansicht
Museum MMK für Moderne Kunst Sammlung Udo und Anette Brandhorst, München
Foto: Axel Schneider
NIL YALTER. Exile Is a Hard Job / Walls. 2018
NIL YALTER. Exile Is a Hard Job / Walls. 2018
Acryl auf Offset-Druck im öffentlichen Raum Wetzlarer Straße, Köln-Kalk
© Nil Yalter
Foto: Estelle Vallender
FRANK WALTER. King Size Soul
FRANK WALTER. King Size Soul. o.J.
Museum MMK für Moderne Kunst Frankfurt am Main
Foto: Axel Schneider
FANG LIJUN. Gruppe Zwei, Nr. 2. 1991/92
FANG LIJUN. Gruppe Zwei, Nr. 2. 1991/92
Öl auf Leinwand
Dauerleihgabe Peter und Irene Ludwig Stiftung, 1995
Museum Ludwig
Installationsansicht „Mapping the Collection“ Museum Ludwig, Köln 2020
Installationsansicht „Mapping the Collection“ Museum Ludwig, Köln 2020
Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Nina Siefke
GEORGES ADÉAGBO. L’explorateur et les explorateurs devant I’histoire de I’exploration …! 2002
GEORGES ADÉAGBO. L’explorateur et les explorateurs devant I’histoire de I’exploration …! 2002
Installation im Rahmen der Jubiläumsausstellung „Wir nennen es Ludwig“ im Museum Ludwig, 2016
Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln / Britta Schlier
JULIEN CREUZET. People remain asleep during bad dreams (…). 2020
JULIEN CREUZET. People remain asleep during bad dreams (…). 2020
Ausstellungsansicht „Frank Walter“
Museum MMK für Moderne Kunst
Foto: Axel Schneider

Zurück

 

MOBILE APP OF THE TRETYAKOV GALLERY MAGAZINE

Download The Tretyakov Gallery Magazine in App StoreDownload The Tretyakov Gallery Magazine in Google play